NOTIERT IN PARIS

Appell an die Gutherzigkeit

Es ist ein Aufruf, der in Frankreich fast ebenso bekannt ist wie der Appell, den Charles de Gaulle einige Jahre vorher am Anfang des Zweiten Weltkriegs lanciert hatte. "Meine Freunde, Hilfe . . .", begann Abbé Pierre seine von dem Radiosender RTL am...

Appell an die Gutherzigkeit

Es ist ein Aufruf, der in Frankreich fast ebenso bekannt ist wie der Appell, den Charles de Gaulle einige Jahre vorher am Anfang des Zweiten Weltkriegs lanciert hatte. “Meine Freunde, Hilfe . . .”, begann Abbé Pierre seine von dem Radiosender RTL am 1. Februar 1954 übertragene Rede. “Heute Nacht um drei Uhr ist auf dem Gehweg des Boulevard Sébastopol eine Frau gestorben, erfroren, in den Händen das Schreiben, mit dem man sie vorgestern hinausgeworfen hat.” Angesichts der über 2 000 Menschen, die jede Nacht in diesem eisigen Winter auf der Straße verbringen müssten, sei es mehr als dringend, Notunterkünfte für die Obdachlosen zu errichten, forderte er.Gut 66 Jahre nach dem Appell von Abbé Pierre muss sich die von ihm für Obdachlose ins Leben gerufene Wohltätigkeitsorganisation Emmaüs erneut an die Franzosen wenden. Denn durch die am 17. März in Kraft getretene Ausgangssperre ist den 289 von ihr in Frankreich betriebenen Einrichtungen die wirtschaftliche Grundlage entzogen worden, da sie sich normalerweise durch Aufarbeitung sowie Verkauf von gespendeten Möbeln, Haushaltsgegenständen und Kleidung finanzieren. Emmaüs France benötigt nun 5 Mill. Euro, um die zweimonatige Ausgangssperre überstehen und die von ihr unterstützten 20 000 Personen weiter verpflegen zu können. Die Wohltätigkeitsorganisation hat deshalb zum ersten Mal seit ihrem Bestehen zu Geld- statt Sachspenden aufgerufen.”Die Realität ist, dass wir noch nicht wissen, ob unsere Bewegung diese Krise überstehen wird”, sagt die stellvertretende Leiterin von Emmaüs France, Valérie Fayard. Die Organisation versuche alles dafür zu tun, damit die von ihr aufgenommenen Personen nicht ein zweites Mal alles verlieren. Sie unterstützt nicht nur Obdachlose, denen sie Unterkünfte und eine Beschäftigung gibt, sondern auch Langzeitarbeitslose, Flüchtlinge und überschuldete Familien.Die zahlreichen SDF (sans domicile fixe), wie Obdachlose in Frankreich heißen, trifft die Corona-Epidemie besonders hart, denn seit Inkrafttreten der Ausgangssperre sind viele öffentliche Duschen geschlossen. Gleichzeitig sind viele Wohltätigkeitsorganisationen, die kostenlos Essen an sie ausgeben, inzwischen unterbesetzt, da sie freiwillige Helfer, die wegen ihres Alters oder Vorerkrankungen zu den Risikogruppen gehören, gebeten haben, zu Hause zu bleiben. Ob der Appell von Emmaüs wie 1954 zu einem “Aufstand der Gutherzigkeit” führen wird, muss sich erst zeigen. Denn in den französischen Medien nahm die von US-Präsident Donald Trump und dem für seine umstrittenen Äußerungen bekannten Nobelpreisträger Luc Montagnier vertretene Spekulation, das neuartige Coronavirus könnte in einem Labor in Wuhan gezüchtet worden sein, in den letzten Tagen mehr Platz ein als der Hilferuf. *Wie alle wirtschaftlichen Akteure bekommen auch Käseproduzenten die Auswirkungen der Coronakrise zu spüren. Frankreich produziert laut einem berühmten Zitat von Charles de Gaulle fast 300 Käsesorten. Ein Mittag- oder Abendessen ohne ein Stückchen Käse hinterher ist für viele Franzosen undenkbar. Doch seit die Wochenmärkte im Freien nicht mehr abgehalten werden dürfen und Restaurants geschlossen bleiben müssen, sind die Verkäufe von nicht eingeschweißtem Käse zurückgegangen. Frankreich hat deshalb jetzt vorübergehend die strengen Regeln für herkunftsgeschützte Käsesorten wie die beiden Blauschimmelarten Bleu d’Auvergne und Fourme d’Ambert sowie den halbfesten Schnittkäse Saint-Nectaire und den Hartkäse Comté geändert, damit es nicht zu einer Überproduktion kommt, die weggeworfen werden muss. So wurde die vorgeschriebene Zeit, in der die für sie verwendete Milch verarbeitet werden muss, etwas verlängert. Gleichzeitig dürfen die Käsesorten während des Reifungsprozesses bei niedrigeren Temperaturen als sonst gelagert werden. Die Comté-Produzenten haben bereits beschlossen, ihre Produktion in den nächsten drei Monaten um 8 % zu senken. Die Saint-Nectaire-Hersteller wiederum wollen den für die Herstellung verwendeten Weißkäse einfrieren und später nutzen, wenn sie sicher sind, dass die Käseverkäufe wieder anziehen.