Europawahl 2024Verschiebung der politischen Gewichte

Auf dem Weg zu einer ganz großen Koalition

Christ- und Sozialdemokraten drohen bei der Europawahl leichte Verluste, Grünen und Liberalen deutliche Einbußen. Das rechte Lager darf auf Zuwächse hoffen. Das alles macht Gesetzgebung in Europa absehbar komplizierter.

Auf dem Weg zu einer ganz großen Koalition

Auf dem Weg zu einer ganz großen Koalition

Im EU-Parlament deutet sich eine Verschiebung der politischen Gewichte nach rechts an – Einige Parteifamilien werden sich neu sortieren

Den beiden großen Volkspartei-Familien drohen Umfragen zufolge bei der Europawahl leichte Verluste, Grünen und Liberalen deutliche Einbußen. Das rechte Lager darf auf Zuwächse hoffen, vor allem die Rechtsextremen. Das alles macht Gesetzgebung in Europa in der nächsten Legislaturperiode absehbar komplizierter.

fed Frankfurt

Wenn man es so will, dann hatten es Jean-Claude Juncker und Martin Schulz noch sehr einfach. Vor acht Jahren musste sich der seinerzeitige christdemokratische EU-Kommissionschef nur mit dem damaligen sozialdemokratischen Präsidenten des EU-Parlaments einig werden – und schon gab es eine Mehrheit im Europäischen Parlament. Denn zwischen 2014 und 2019 brachte es die EVP, also die Parteifamilie der europäischen Konservativen und Christdemokraten, auf knapp 30%, die S&D als politische Heimat von Sozialisten und Sozialdemokraten auf rund 25% der Stimmen. Zwar ist der Einwand richtig, dass selbst die Summe von 55% in Straßburg noch keine Garantie für Mehrheiten bietet, da im EU-Parlament der Fraktionszwang weit weniger stark ausgeprägt ist als im Bundestag. Und in der Tat gibt es erhebliche Meinungsunterschiede zwischen skandinavischen und südländischen Konservativen oder Sozialdemokraten. Aber: Die geringere Treue zur Parteienfamilie wirkt ja auch andersherum. EVP und S&D mögen zwar nicht jedes Mal alle ihre Abgeordneten auf eine Spur bringen. Dafür profitieren sie aber auch davon, dass der eine oder andere Liberale, Grüne oder Linke mit ihnen stimmt. Insofern funktionierte bis 2019 die „große Koalition“ im EU-Parlament recht problemlos.

Das hat sich in der laufenden Amtsperiode bereits verändert. Christ- und Sozialdemokraten verfügen heute über zehn Prozentpunkte weniger als in den vorausgegangenen fünf Jahren. Die beiden großen Parteienfamilien sind auf die Unterstützung anderer Fraktionen angewiesen, wenn sie eine Mehrheit organisieren wollen. Immer häufiger bilden sich andere Lager heraus – in Finanz- und Wirtschaftsfragen etwa steht regelmäßig ein stärker verbraucher- und anlegerschutzorientierter Block von S&D, Grünen und Linken einer stärker an der Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Finanzbranche ausgerichteten Koalition von Konservativen und Liberalen gegenüber.

Grüne und Liberale vor Verlusten

Die Europawahlen werden diese politische Tektonik erneut verändern. Seit Monaten deuten Prognosen folgende Trends an: Wenn sich die Umfragen bewahrheiten, werden die Christdemokraten abermals als mit Abstand größte Fraktion aus den Wahlen hervorgehen. Die Sozialdemokraten werden kleinere Schrammen erleiden, dürften aber Platz 2 behaupten. Grünen und Liberalen hingegen drohen erhebliche Einbußen. Während andererseits Rechtskonservative und die Parteien am äußeren rechten Rand auf kräftige Zugewinne hoffen dürfen. Um andererseits einer Überschätzung der Verschiebungen vorzubeugen: Selbst bei Addition ihrer Sitze werden die Rechten kaum an die Christdemokraten heranreichen.

Dabei gibt es eine ganze Reihe von Unwägbarkeiten. Da ist beispielsweise die Zusammensetzung der Parteifamilien, vor allem auf der rechten Seite. So ist die Partei des wegen seiner islamfeindlichen und chauvinistischen Äußerungen berüchtigten Rechtsaußen Éric Zemmour, der französische Rechtsausleger Reconquête, nicht im rechtsextremen, sondern im rechtskonservativen Lager beheimatet – also nicht bei der Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID), in der sich auch die AfD, die Freiheitspartei von Geert Wilders oder die italienische Lega tummeln, sondern bei den „Europäischen Konservativen und Reformern“ (EKR), gemeinsam mit den „Brüdern Italiens“ von Giorgia Meloni und der polnischen PiS. Die italienischen Fünf Sterne wiederum zählen derzeit zu den Fraktionslosen, genauso wie die ungarische nationalkonservative Fidesz von Viktor Orbán.

Gut möglich, dass sich Fidesz, die 2021 aus der christdemokratisch-konservativen Fraktion ausgeschieden ist, nach den Wahlen im Juni einer anderen Parteienfamilie anschließt. Keineswegs auszuschließen auch, dass es zu „neuen Wahlverwandtschaften“ kommt, insbesondere durch Wechsel rechts der Mitte zwischen ID und EKR – nicht zuletzt angesichts der Spannungen etwa zwischen der deutschen AfD und dem französischen Rassemblement National, insbesondere nachdem dessen langjährige Parteivorsitzende Marine Le Pen im Zusammenhang mit der Debatte über Remigration eine Abgrenzung von der Alternative für Deutschland gefordert hat.

Mehrheitsfindung schwieriger

Kurzum: Im neuen EU-Parlament wird es für die bürgerlichen Parteien schwieriger, Mehrheiten zu bilden. Denn bislang lautet ihr Versprechen, keinen Beschluss zu fassen, bei dem sie auf die Stimmen von ganz rechts angewiesen sind. Wo genau ganz rechts anfängt, ist dabei ständiger Anlass von Diskussionen. So sieht sich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) Kritik ausgesetzt, weil sie eine Zusammenarbeit zwar mit den Rechtsextremen (ID), nicht aber mit den Rechtskonservativen (EKR) ausschließt. Bei einer Elefantenrunde in Maastricht sagte sie jüngst, es komme darauf an, wer sich welcher Parteiengruppe anschließe.

Das lässt vermuten, dass in Zukunft immer öfter ganz große Koalitionen in Europa notwendig werden, mit vier oder gar fünf Parteien. Und daraus wiederum kann man die Erwartung ableiten, dass das nächste EU-Parlament weniger Gesetze beschließen wird als seine Vorgänger. Das mag in einigen Ohren sehr positiv klingen. Es wäre allerdings fatal, eine durch Unfähigkeit zur Mehrheitsbildung erzeugte Selbstblockade des EU-Parlaments mit einer aus sachlichen Erwägungen begründeten Regulierungspause zu verwechseln.

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