„Auf dem Weg zum Krankenbett ist die Wirtschaft allemal“
Im Interview: Alexander Krüger
“Auf dem Weg zum Krankenbett ist die Wirtschaft allemal”
Der Chefvolkswirt der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank zur Lage der deutschen Wirtschaft und zur Wirkung der Geldpolitik
Hierzulande eine Stagnation, aber ein überraschend starkes Plus in Frankreich und Spanien: Die deutsche Wirtschaft schwächelt im internationalen Vergleich, der Standort wird unattraktiver. Im Interview ordnet Alexander Krüger, Chefvolkswirt der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank, die aktuelle Lage und künftige Herausforderungen ein.
Herr Krüger, die Industrie gilt hierzulande aktuell als Sorgenkind: Die Neubestellungen schwächeln seit fast anderthalb Jahren, die Auftragspolster schwinden, die Produktion profitiert nicht mehr ganz so kräftig von den rückläufigen Materialknappheiten, die Stimmung in der Wirtschaft ist trübe: Wie wird der weitere Jahresverlauf aussehen?
Eher dürftig. Vor allem die schwache Weltwirtschaft und Wettbewerbsnachteile durch hohe Energiekosten bremsen. Wenn das Produktionsniveau einigermaßen gehalten werden könnte, wäre das schon ein Erfolg.
Der Inflation Reduction Act (IRA) und die vergleichsweise hohen Energiepreise schüren die Sorge, dass energieintensive Unternehmen Deutschland scharenweise verlassen. Hegen auch Sie diese Sorge?
Mangels verfügbarer Produktionsstätten im Ausland dürfte das kaum über Nacht erfolgen. Abwanderungsgedanken hegen inzwischen aber zu viele Unternehmen, so dass die Alarmglocken in Berlin schrillen müssten. Käme ein Verlagerungsprozess nämlich in Gang, ließe er sich nur schwer aufhalten.
Ein Industriestrompreis gilt als probates Mittel, um Unternehmen in Deutschland zu halten – wie bewerten Sie diese Idee?
Er wäre nicht mehr als Flickschusterei, da irgendjemand diese Subvention bezahlen müsste. Das raubt dann aber Ressourcen in anderen Wirtschaftsbereichen. Die Attraktivität eines Landes ist mit Subventionen nicht zu steigern, zumal die Gefahr eines schädlichen Subventionswettlaufs zunähme. Das Problem entsteht überhaupt auch erst deshalb, weil der Staat nicht technologieoffen handelt.
Der Fachkräftemangel gilt als immer größeres Problem: Inwieweit lässt sich die Lücke tatsächlich über Zuwanderung schließen?
Es fehlen nicht Fachkräfte, sondern Arbeitskräfte allgemein. Entscheidend ist, dass diese genau hinsehen werden, wie ihre Integrationschancen hierzulande im Vergleich zu anderen Ländern aussehen. Da eine Willkommenskultur in der heimischen Bevölkerung nur in Teilen besteht, habe ich Zweifel, dass selbst gute Einwanderungsangebote in der Breite angenommen werden.
Als weiterer Baustein, die Arbeitskräftelücke zu schließen, gilt, dass Frauen mehr in Vollzeit arbeiten. Dem stünde aber das Ehegattensplitting entgegen. Ist das die ganze Wahrheit?
Grundsätzlich gilt: Wegen des demografischen Wandels muss von der arbeitsfähigen Bevölkerung mehr für den Wohlstandserhalt gearbeitet werden. Dabei ist der Einbezug nichtberufstätiger Ehepartner wichtig. Überaus zentral ist dabei eine funktionierende Kinderbetreuung, Ehegattensplitting und andere Maßnahmen sind demgegenüber zweitrangig.
Beim Dienstleistungssektor wirkt noch der Erholungsschub nach dem Ende der Corona-Restriktionen nach. Wie lange trägt dieser noch?
Die Antriebskräfte haben bereits nachgelassen. Generell gilt: Läuft es im verarbeitenden Gewerbe nicht, kann der Dienstleistungssektor kaum ein Eigenleben führen. Auch das hält den Blick auf eine Quasi-Stagnation der Wirtschaftsleistung im zweiten Halbjahr 2023 gerichtet.
Vom Privatkonsum, einer sonst zuverlässigen Wachstumsstütze, wird in diesem Jahr kein positiver Impuls ausgehen, das Konsumklima ist auf niedrigem Niveau: Kann sich die Situation angesichts der nur langsam nachlassenden Inflation im kommenden Jahr wesentlich bessern?
Nein, zumal der Arbeitsmarkt nahe seines Zenits ist. Weniger Inflationsdruck reicht allein auch nicht aus, da Realeinkommensverluste trotz Lohnanstiegen bestehen bleiben. Dem Konsum spürbar helfen würden eine über längere Zeit negative Inflationsrate, Steuersenkungen und weniger Verunsicherung durch die Regierungspolitik, etwa bei der Energiepolitik.
Welche Entwicklung erwarten Sie für die Inflation im Euroraum, insbesondere die Kerninflation, die ja im Fokus der EZB steht?
Wir sehen seit einigen Monaten, dass sich angebotsseitige Preiseffekte zurückbilden. Das wird weitergehen und die Gesamtinflationsrate bis zum Jahresende beständig sinken. Bei der Kernrate ist dagegen auch aufgrund von Preisüberwälzungen durch höhere Löhne Geduld gefragt.
Wie beurteilen Sie den beispiellosen Straffungskurs der EZB: Ist sie dabei zu überziehen, so wie sie zuvor zu lange die steigende Inflation als ein nur vorübergehendes Phänomen betrachtet hat?
Hätte die EZB gewusst, dass es den Ukraine-Krieg geben wird, hätte sie die Leitzinsen bestimmt früher erhöht. Jetzt ist sie in der Spur, bei vergleichbarem Inflationsanstieg hinkt sie anderen Notenbanken aber hinterher. Potenzial besteht beim Einlagesatz sicherlich bis 4,5%. Da die Ratsmitglieder hochverschuldeter Länder aber schon länger kalte Füße bekommen, kann von einem Überziehen nicht die Rede sein. Spätestens bei 4,0% ist Schluss.
Die restriktive Geldpolitik schlägt ja erst mit einiger Verzögerung in die Realwirtschaft durch – die US-Wirtschaft hielt sich im ersten Halbjahr besser als erwartet. Ist die US-Rezession damit abgesagt oder verschiebt sie sich nach hinten?
Wir rechnen damit, dass sich die Wirtschaft trotz Zinsanstiegs durchlavieren und eine sanfte Landung erfolgen wird. Immerhin gibt es auch positive Wachstumseffekte, etwa vom Arbeitsmarkt und Inflation Reduction Act. Auf dem erreichten Niveau würde die Wirtschaft aber auch von einer milden Rezession nicht umgeworfen.
Die Fed hat ja etwas früher als die EZB die Zinswende eingeleitet. Lassen sich daher aus den Entwicklungen in den USA Schlüsse auf die künftige Entwicklung der Euro-Wirtschaft ziehen?
Nicht wirklich. Wirkungsverzögerungen bestehen auch hierzulande, privater Verbrauch und Investitionen sind die Leidtragenden. Auch deshalb scheint die technische Rezession im Euroraum in die Verlängerung zu gehen. Wachstumsdämpfende Effekte werden zunehmend auch von der Bilanzschrumpfung ausgehen, bei der noch Potenzial für einen strafferen Verlauf besteht.
Die Märkte spekulieren für Anfang 2024 auf eine Zinssenkung in den USA. Wie sieht es mit Zinssenkungen der EZB aus?
Solange ein Konjunkturabsturz ausbleibt, ist daran erst einmal nicht zu denken. Die EZB dürfte abwarten, bis sich Gesamt- und Kerninflationsrate dem 2-%-Preisziel deutlich angenähert haben. Ein streng restriktiver Kurs wird von ihr dann nicht mehr als notwendig angesehen werden. Als frühesten Zinssenkungstermin sehen wir den März 2024 an.
Wie weit könnten die Leitzinsen sinken?
Der Zinssenkungsumfang ist limitiert. Das liegt unter anderem an strukturellen Inflationstreibern wie der Demografie, Deglobalisierung und Dekarbonisierung, aber auch an höheren Lohnzuwächsen. Der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) wird deshalb noch lange über seinem preisstabilen Langfristtrend liegen. Es kommt also darauf an, die höheren Leitzinsen wirken zu lassen.
Ein weiterer wichtiger deutscher Handelspartner ist China. Der Aufschwung nach dem abrupten Ende der Null-Covid-Politik endete früher als erwartet, Konjunkturdaten haben zuletzt enttäuscht. Wird mit China bald wieder zu rechnen sein?
Danach sieht es nur bedingt aus. Die Regierung beabsichtigt mit belebenden Maßnahmen zwar gegenzusteuern. Von der Demografie über die Verschuldung bis zum Immobilienmarkt liegen aber gewichtige Strukturprobleme vor, die Spielräume begrenzen. Das höhere Autarkiestreben Chinas bleibt eine eher schlechte Nachricht für die Exporttätigkeit anderer Länder.
Ziehen wir ein Resümee: Deutschland rangiert weiter unter dem Durchschnitt der Euro-Länder. Rutscht Deutschland wieder zum „kranken Mann Europas“ ab?
Auf dem Weg zum Krankenbett ist die Wirtschaft allemal, „Made in Germany“ kommt aus der Mode. Es ist aber vor allem das seit Jahren beständige Abrutschen gegenüber anderen Ländern in Standort-Rankings, das zu denken gibt. Statt Ideologie und Umverteilung bedarf es dringend einer neuen Wachstumsagenda, die innovativ wirkt und vor allem den Regulierungsgrad senkt. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass in Berlin noch die richtigen Weichen gestellt werden.
Die Fragen stellte Alexandra Baude.