Aufbruchstimmung bei der WTO
rec Frankfurt
Mit hohen Erwartungen in Europa, den USA und in vielen Entwicklungsländern wird die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala am 1.März ihre Arbeit als Chefin der Welthandelsorganisation (WTO) aufnehmen. Nach einer monatelangen Blockade durch die abgewählte US-Regierung haben die 164 Mitglieder der WTO die promovierte Entwicklungsökonomin einstimmig zur neuen Generalsekretärin ernannt. Okonjo-Iweala sagte: „Unsere Organisation steht vor einer Vielzahl von Herausforderungen, aber gemeinsam können wir die WTO stärker und agiler machen und besser an die heutigen Realitäten anpassen.“
Die Nachfolgerin des Brasilianers Roberto Azevêdo, der im August ein Jahr vor Ablauf seiner zweiten Amtszeit zurückgetreten war, ist die erste Frau und erste Vertreterin Afrikas an der Spitze der schwer angeschlagenen Institution. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und führende Handelspolitiker der Europäischen Union begrüßten die Entscheidung. Der US-Gesandte bei der WTO, David Bisbee, versicherte der Nachrichtenagentur Reuters zufolge, Okonjo-Iweala könne auf die USA „als konstruktiven Partner“ bauen. Chinas Handelsministerium erklärte, es habe volles Vertrauen in Okonjo-Iweala. EU-Kommissionsvize Valdis Dombrovskis kündigte für Donnerstag einen „detaillierten Plan“ für eine Reform der WTO an.
Die Agenda der neuen WTO-Chefin könnte fordernder kaum sein. Eine ihrer dringlichsten Aufgaben ist die Reform der Streitbeilegung, die angesichts der Weigerung der USA, Richterstellen in der Berufungsinstanz nachzubesetzen, seit mehr als einem Jahr gelähmt ist und Handelskonflikte nicht mehr final schlichten kann. Weit oben auf der Agenda steht zudem eine Modernisierung der Spielregeln für den Welthandel. Das betrifft einerseits Subventionen, den Schutz des geistigen Eigentums und den Umgang mit Staatsunternehmen – Bereiche, in denen sich insbesondere die USA und die EU von China übervorteilt fühlen. Andererseits fehlen bislang weltweit verbindliche Regeln für den Dienstleistungshandel mit Daten von Unternehmen und Verbrauchern. Darauf drängt vor dem Hintergrund der immer stärkeren Vernetzung von Unternehmen und Maschinen über Grenzen von Ländern und Kontinenten hinweg nicht zuletzt die deutsche Industrie.
Okonjo-Iweala gilt angesichts ihrer Karriere in der Finanz- und Entwicklungspolitik als Idealbesetzung. Die 66-Jährige stieg im Zuge der Weltfinanzkrise 2008/09 in den Führungszirkel der Weltbank auf, für die sie mehr als 25 Jahre arbeitete. Zwischenzeitlich war sie zweimal Finanzministerin ihres Heimatlandes und machte sich über die Grenzen Nigerias hinaus als Kämpferin gegen Korruption einen Namen.
Wolfgang Niedermark vom Industrieverband BDI sprach von einem „Befreiungsschlag“. Außenhandelsexperte Gabriel Felbermayr vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) nannte Okonjo-Iweala „eine tatkräftige und erfahrene Generaldirektorin. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um die drohende Irrelevanz der WTO abzuwenden.“ Die Leiterin des Zentrums für Außenwirtschaft am Münchner Ifo-Institut, Lisandra Flach, sieht eine „einzigartige Chance“ für ein stabileres, multilaterales Handelssystem. Als Vorsitzende der weltweiten Impfallianz Gavi bringe Okonjo-Iweala einschlägige Erfahrungen mit. Flach nannte auch den Handel mit „grenzüberschreitenden Klimazertifikaten“ als dringliche Aufgabe. Pläne der EU-Kommission für eine Art CO2-Aufschlag auf Importe stoßen bei Handelspartnern auf Widerstand.
Auch im EU-Parlament machte sich Aufbruchstimmung breit. Der Vorsitzende des Handelsausschusses Bernd Lange (SPD) sagte: „Sie muss gleichzeitig Krisenmanagerin und Reformerin sein.“ Grünen-Politikerin Anna Cavazzini zufolge besteht nun „die Chance, die Spaltung der WTO in Industrie- und Entwicklungsländer zu überwinden“. Es wird erwartet, dass Okonjo-Iweala die Interessen der Entwicklungsländer stärker berücksichtigen wird.
Ein wichtiger Meilenstein für die neue Chefin ist die im Lauf des Jahres geplante Ministerkonferenz. Die 12. Auflage des wichtigsten Entscheidungsgremiums musste wegen der Pandemie verschoben werden.