Außer Kontrolle
Der Müllwagenfahrer Ian Tomlin war 46, als er Ende Oktober in der Charlotte Despard Avenue im Londoner Stadtteil Battersea ermordet wurde. Der Vater zweier Kinder fuhr auch den Bus der Lokalverwaltung für Alte und Behinderte. Er fürchtete die Bandenmitglieder, die vor seiner Erdgeschosswohnung in einem Sozialwohnungsblock ihren Drogengeschäften nachgingen. Der ehemalige Boxer glaubte offenbar, ihnen entgegentreten zu können. Er wurde mit tödlichen Stichverletzungen in der Nähe der Aufzüge gefunden. Die Bewohner der Blocks haben es häufig mit Dealern und ihren Kunden zu tun, die in den Treppenaufgängen Drogen konsumieren. “Hört auf, unsere Nachbarschaft zu vergiften. Unsere Kinder leben hier”, stand auf einem Schild, das neben Blumen am Tatort abgelegt wurde. Die Polizei sprach von einem “tragischen Zwischenfall”, der “völlig sinnlos” gewesen sei.Omid Saidy war 20, als er in Parsons Green ermordet wurde. Der Jugendsozialarbeiter hatte zuerst mit seinem Freund Oluwafemi Omotosho eine Gruppe von Dealern vor seinem Haus verjagt. Sie kamen später vermummt zurück. Omotosho wurde von seinem Moped gestoßen und schwer verletzt. Saidys 17 Jahre alter Mörder behauptete, er habe sich nur verteidigt und wurde zu einer Jugendstrafe verurteilt. Er hatte bereits vier einschlägige Vorstrafen. Der 19-Jährige, der Omotosho sein Messer in die Brust rammte, war auf Bewährung draußen. Vier Tage zuvor wurde ihm bei einer Personenkontrolle ein 30 Zentimeter langes Messer abgenommen.Im laufenden Jahr wurden in der britischen Metropole bereits mehr als 100 Menschen ermordet, die meisten in den Auseinandersetzungen bewaffneter Banden, die den lukrativen Drogenmarkt unter sich aufteilen. Der National Crime Agency zufolge richten ihre Aktivitäten jedes Jahr landesweit einen Schaden von 37 Mrd. Pfund an. Weil Zeugen systematisch eingeschüchtert werden, gehen die Täter oft straffrei aus.Londons Bürgermeister Sadiq Khan kommt das Thema ungelegen, schließlich geriet die Situation in seiner Amtszeit derart außer Kontrolle. Ein neuer Ansatz, der sich an erfolgreichen Kampagnen in Glasgow und Chicago orientiert, hört sich großartig an. Aber Khan hat dafür nur ein klägliches Budget vorgesehen. “Cure Violence” in Chicago hat dieses Jahr 5,5 Mill. Dollar zur Verfügung. In New York, das ungefähr ebenso viele Einwohner hat wie London, sind es gar 17 Mill. Dollar. Die 500 000 Pfund, die Khan seiner Initiative zubilligt, sind dagegen ein Witz. Der Violence Reduction Unit im vergleichsweise kleinen Glasgow flossen zwischen 2008 und 2016 insgesamt 7,6 Mill. Pfund zu. Londons Gutmenschen erwähnen meist nicht, dass sich in Schottland die durchschnittliche Haftstrafe für den Besitz eines Messers von vier auf 13 Monate verdreifacht hat.Zudem war die schottische Polizei nicht gezwungen, sich bei jeder Personenkontrolle mit Rassismusvorwürfen auseinanderzusetzen. “Unfair, ungerecht und ineffizient” seien Kontrollen auf Verdacht, behauptet etwa David Lammy, der Labour-Unterhausabgeordnete für Tottenham, einen Londoner Stadtteil, der für seine “Murder Mile” bekannt ist. Es müsse Schluss sein mit der “Stigmatisierung” schwarzer Männer, fordert Lammy. Bislang brachte ihm das Stimmen, aber die in der Regel nicht weißen Bewohner der Armenviertel, in denen die Banden ihre Fußsoldaten rekrutieren, fordern mittlerweile mehr Personenkontrollen und strengere Strafen für den Besitz von Stichwaffen. Sieht man sich die Bilder der Toten an, die auf den Straßen Londons in diesem Jahr verblutet sind, finden sich fast nur schwarze Gesichter. Aber diese Leben spielen für die Aktivisten von Black Lives Matter und Ghetto-Politiker vom Schlage Lammys offenbar keine Rolle. Saidy und Tomlin haben Zivilcourage gezeigt. Sie wurden nicht nur von Lokalverwaltung und Polizei im Stich gelassen, sondern auch von denjenigen, die vorgeben, sich für ihre Rechte einzusetzen.Unterdessen kündigte Innenminister Sajid Javid an, prüfen zu lassen, ob auch Altersdiskriminierung und Menschenfeindlichkeit künftig als “Hassverbrechen” betrachtet werden sollten. Sara Thornton, die dem National Police Chiefs` Council vorsitzt, forderte, die Polizei solle sich stattdessen auf ihr Kerngeschäft konzentrieren – die Bekämpfung der Gewaltkriminalität.