NOTIERT IN MOSKAU

Autos, Zebrastreifen und Gorbatschow

Die Menschen im Westen hätten immer gern gehabt, dass die Russen sind wie sie. Zugegeben, das hätte vieles leichter gemacht. Aber es ging nun mal an der Realität vorbei. Und wer denkt, dass die Russen früher oder später ja doch ganz so werden wie...

Autos, Zebrastreifen und Gorbatschow

Die Menschen im Westen hätten immer gern gehabt, dass die Russen sind wie sie. Zugegeben, das hätte vieles leichter gemacht. Aber es ging nun mal an der Realität vorbei. Und wer denkt, dass die Russen früher oder später ja doch ganz so werden wie wir, dürfte genauso falsch liegen wie der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der nach dem Fall des Kommunismus bekanntlich das Ende der Geschichte ausgerufen hat. Er hat gut damit verdient, sogar zweimal, weil er seinen später eingestandenen Irrtum ja wieder zu Geld gemacht hat. Sei’s drum.Und doch finden Veränderungen und sogar kulturelle Angleichungen statt. Eine solche Beobachtung etwa konnte man in der ersten Hälfte der Nullerjahre machen. Aus der Tradition der Sowjetzeit heraus war es unüblich, dass Autofahrer einen Fußgänger über den Zebrastreifen ließen. Als Schwächerer hatte man zu warten. Doch die Russen kamen in der damaligen Rohstoffhausse zu Geld, begannen vermehrt in den Westen zu reisen. Und siehe da, von Jahr zu Jahr wuchs die Zahl jener Verkehrsteilnehmer, die einen Zebrastreifen akzeptierten. Statistisch untermauern kann man das nicht, aber es waren vorwiegend die Besitzer westlicher Automarken, die sich im Gegensatz zu den Personen in den russischen Automodellen an die Verkehrsordnung hielten, woraus zu schließen war, dass die Besserverdiener, die sich den Auslandsurlaub leisten konnten, in diesem Fall auch eine Kulturleistung transferierten.In Sankt Petersburg übrigens hatten die Autofahrer die Fußgänger schon in den 1990er Jahren über den Zebrastreifen gehen lassen – vermutlich deshalb, weil dort der Austausch mit Finnland viel intensiver war. In Moskau musste man mitunter nachhelfen: Eine beliebte Technik war die des Kinderwagens, sollte man mit dem Nachwuchs unterwegs gewesen sein. Man simulierte, dass man den Kinderwagen auf den Zebrastreifen schiebt, und die Russen, Kinderfreunde wie sie sind, stoppten ihre Autos. Hat immer funktioniert, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Warum dieser Exkurs in die Geschichte?Weil alles im Fluss ist, wenn auch bei weitem nicht immer linear in eine Richtung. Politisch fiel man in Russland mit Wladimir Putin hinter die 1990er Jahre zurück. Aber nicht überall wurde die Uhr zurückgedreht. Heute sind die russischen Autofahrer päpstlicher als der Papst, und bei Verkehrsübertretungen kann man Polizisten nicht mehr bestechen. Auch der modernisierte Fuhrpark mit seinen 45 Millionen Fahrzeugen ist nicht wiederzuerkennen. Am Automodell und im Straßenverkehr lässt sich der Unterschied zum Westen also immer schwerer ablesen.Um aufzuspüren, wo heute Entwicklungen stattfinden, muss man in ganz andere Ecken blicken. Etwa ins Moskauer “Theater der Nationen”. Dort wird derzeit ein Stück über Michail Gorbatschow gespielt, über die Liebe zwischen ihm und seiner Frau Raissa. Von zwei berühmten Schauspielern, durchaus loyal zum Kreml. Fast unerhört, ist doch Gorbatschow, der das Land gegen Ende der Sowjetzeit geöffnet hat, bei den Putinwählern verhasst. Offenbar aber wollen sich einige aus der Elite doch wieder an einen anderen Herrschertyp erinnern, schrieb dazu der Publizist und Ökonom Dmitri Trawin und wies darauf hin, dass die Bürger und Beobachter zu wenig auf dieses sukzessive Umdenken bei einigen Vertretern der Elite achten und stattdessen nur an eine große Revolution glauben.Und er verweist auf einen zweiten Fall: Einen Tag nach der Durchsuchung ihrer Wohnung durch die Behörden hat sich vergangene Woche in der Stadt Nischni Nowgorod 400 Kilometer östlich von Moskau die der Opposition nahestehende und von den Behörden öfters gepiesackte Journalistin Irina Slawina selbst verbrannt. Zuvor hinterließ sie eine Nachricht, dass die den Staat dafür verantwortlich mache.Das ist katastrophal, doch die Reaktion des Gebietsgouverneurs immerhin bemerkenswert, meint Trawin. Der dortige Gouverneur nämlich hat Irina Slawina als Menschen und Journalistin gewürdigt und versprochen, alles zu tun, damit der Fall aufgeklärt wird. In Putins Russland, so Trawin, begräbt man damit eher seine Karriere. Aber offenbar fand es der Gouverneur wert und an der Zeit, sich unorthodox untypisch zu äußern.