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Barniers steinige Tour im Brexit-Gebirge

Von Andreas Heitker, Brüssel Börsen-Zeitung, 16.5.2020 Michel Barnier ist um seinen Job als Brexit-Chefunterhändler der Europäischen Union wahrlich nicht zu beneiden. Im nächsten Monat sind es schon drei Jahre, in denen der Franzose zusammen mit...

Barniers steinige Tour im Brexit-Gebirge

Von Andreas Heitker, BrüsselMichel Barnier ist um seinen Job als Brexit-Chefunterhändler der Europäischen Union wahrlich nicht zu beneiden. Im nächsten Monat sind es schon drei Jahre, in denen der Franzose zusammen mit seinen britischen Gegenspielern versucht, den EU-Austritt Großbritanniens koordiniert zu gestalten und die künftigen bilateralen Beziehungen auf ein möglichst stabiles Fundament zu stellen.Das Problem ist nur: Trotz akribischer und systematischer Vorbereitungen von Barnier und seiner Taskforce hat es in diesen drei Jahren nur selten Momente gegeben, in denen auch wirklich ernsthaft und effizient verhandelt wurde. Aus Brüsseler Sicht werden die Gespräche nämlich immer wieder von einer grundsätzlichen britischen Verweigerungshaltung und von taktischen Spielchen ausgebremst. Dies zieht sich seit Beginn der Verhandlungen im Juni 2017 wie ein roter Faden durch die Verhandlungen – egal, ob auf britischer Seite David Davies die Delegation anführte oder ob es heute David Frost ist.Auch die am Freitag zu Ende gegangene dritte Runde der Post-Brexit-Gespräche, in denen es um einen Freihandelsvertrag und Verständigungen über die weiteren politischen Beziehungen geht, endeten wieder enttäuschend – wie auch schon die erste und die zweite Runde Anfang März beziehungsweise Ende April. In Brüssel verweisen EU-Diplomaten darauf, dass in der jetzigen Phase die eigentlichen Verhandlungen noch gar nicht begonnen hätten. Dies werde wohl erst nach der Sommerpause geschehen, wenn auch Premierminister Boris Johnson sich vielleicht wieder etwas mehr für die Brexit-Gespräche zu interessieren beginne.Für Barnier und sein Team ist dies natürlich frustrierend. Als der EU-Unterhändler am Freitag vor die Presse trat, klangen seine Vorwürfe bereits wohl vertraut: Er zeigte sich einmal mehr enttäuscht über die “fehlenden Ambitionen” auf britischer Seite, die vor allem kein Interesse an einer Debatte über gleiche Wettbewerbsbedingungen und ein umfassendes Partnerschafts- und Freihandelsabkommen zeigt. London setzt weiterhin auf mehrere kleinere sektorale Verträge. Kühl und beherrschtDie britische Seite wirft Barnier dagegen vor, dass er sich nicht genügend bewege und einen “ideologischen Ansatz” fahre. Auf Grundlage von Barniers Mandat könne nicht verhandelt werden, hieß es am Freitag, nachdem auf jeder Seite rund 250 Experten fünf Tage lang in rund 40 Videokonferenzen Kompromissmöglichkeiten ausgelotet hatten. Auf die Frage, ob die Gefahr eines harten Bruchs ohne Abkommen zum Jahresende steige, sagte Barnier: “Ich bin nicht optimistisch.”Dass der mittlerweile 69 Jahre alte Barnier in dieser Gemengelage trotzdem immer ruhig, fast schon kühl und beherrscht auftreten kann, ist sicher auch auf seine lange politische Karriere zurückzuführen, in der er schon mit so mancher Krise zu tun hatte. Der Neogaullist war in seinem Heimatland Umwelt-, Europa-, Außen- und Landwirtschaftsminister. In der EU-Kommission war er unter Präsident Romano Prodi für Regionalpolitik und institutionelle Reformen verantwortlich gewesen, später unter José Manuel Barroso für den Binnen- und Finanzmarkt. Schon zu jener Zeit hat er sich mit seinem Regulierungsfeuerwerk, das er als Antwort auf die Finanzkrise abgebrannt hatte, in London nicht nur Freunde gemacht. Barnier hatte aber von Anfang an versprochen, sich in den Brexit-Verhandlungen nicht von Emotionen leiten zu lassen. Er ziele auf “lösungsorientierte Verhandlungen”, sagte er 2017 zu Beginn der Gespräche. Die EU müsse “einen kühlen Kopf behalten”.Der dreifache Familienvater, der aus der Alpenregion Savoyen stammt, ist ein passionierter Bergwanderer. Dieses Hobby, so erklärte er einst, stehe sinnbildlich auch für die Brexit-Verhandlungen: Man müsse immer einen Fuß vor den anderen setzen. Es könne ja steinig und steil werden in den Bergen. Wichtig sei, immer den Gipfel im Blick zu behalten.Einen harten Bruch zu vermeiden und die Beziehungen zwischen London und Brüssel nachhaltig zu regeln, ist der letzte große politische Gipfel, den Michel Barnier im Blick hat. Eine Verhandlungsrunde soll es nun noch in der Woche ab dem 1. Juni geben. Danach wird Zwischenbilanz gezogen und beschlossen, wie es weitergeht. Zwischenbilanz im JuniGroßbritannien könnte noch bis Ende Juni eine Verlängerung der Verhandlungen beantragen, was London ablehnt. Ein späterer Antrag auf Verlängerung wäre theoretisch noch denkbar, praktisch aber äußerst schwierig, weil dazu noch einmal der Austrittsvertrag wieder aufgeschnürt werden müsste – mit anschließenden neuen Ratifizierungsverfahren in allen 27 EU-Staaten. Wenn es keine Verlängerung gibt, müsste ein Handelsvertrag zumindest in Grundzügen bis Ende Oktober stehen, damit die Ratifizierungsprozesse auch noch rechtzeitig abgeschlossen werden können. Derzeit deutet nicht viel darauf hin, dass dies machbar ist. Aber auch Barnier weiß aus den bislang seit drei Jahren andauernden Brexit-Gesprächen, wie schnell eine Verständigung möglich sein kann – wenn nur ernsthaft genug auf beiden Seiten verhandelt wird.