RINGEN UM DIE ZUKUNFT DER EU

Bei chaotischem Brexit senkt Großbritannien radikal die Zölle

Im Notfall keine Abgaben auf 87 Prozent aller Importe - "No Deal" auch eine Gefahr für den Staatshaushalt

Bei chaotischem Brexit senkt Großbritannien radikal die Zölle

bet London – Die britische Regierung hat für den Fall eines unkontrollierten Ausstiegs aus der EU umfangreiche Zollsenkungen angekündigt. Für 87 % der Importe werde der Einfuhrzoll im Fall eines “harten” Brexit auf null gesenkt, teilte das Handelsministerium am Mittwoch mit. So soll der wirtschaftliche Schock eines “No Deal” gemildert werden. Die Senkung würde für bis zu zwölf Monate gelten. Nur auf ausgewählte Fleisch- und Milchprodukte sowie einige Industriegüter, darunter Autos, würden Einfuhrzölle erhoben. Das soll heimische Produzenten schützen. Autoteile, die von britischen Herstellern benötigt werden, blieben indes zollfrei.Angewandt werden könnte das neue Zollregime bereits ab Ende März, falls sich London und Brüssel nicht auf einen Aufschub des Brexit einigen oder kein Austrittsvertrag zustande kommt. Das Regime wird nötig, weil das Land mit dem Brexit auch den gemeinsamen Binnenmarkt der EU verlässt, in dem keine Zölle erhoben werden. Würde Großbritannien nichts ändern, müsste es über Nacht Zölle auf Basis der Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) einführen. Viele Importe würden damit schlagartig teurer, denn die EU ist der größte Handelspartner Britanniens.Das Prinzip der Meistbegünstigung (“Most Favoured Nation”) der WTO schreibt vor, dass – wenn kein Freihandelsabkommen existiert – ein Land Einfuhrzölle für eine Warengruppe nicht für Importe aus einem speziellen Land senken darf, sondern nur für alle Länder gleichzeitig. Somit bleibt London nur ein global geltender Abbau, um einen Brexit-Schock abzufedern.Unter dem EU-Regime mit einem zollfreien Binnenhandel und einem gemeinsamen Außenzoll werden derzeit 80 % aller Importe zollfrei in das Vereinigte Königreich eingeführt. Der einheitliche Zoll hätte zur Folge, dass künftig manche EU-Importe mit Einfuhrabgaben belegt wären, während der Zoll für viele Importe aus Drittländern sinkt. Beispielsweise würde London auf Textilien einen allgemeinen Importzoll von 0,9 % anlegen, während der EU-Außenzoll bei 8 % liegt. Die größte Belastung für britische Firmen dürfte darin liegen, dass sie bei Exporten in die EU neu mit dem europäischen Außenzoll konfrontiert würden. Vereinzelter Protektionismus ist offensichtlich: Der neue Zoll auf Automobile würde mit rund 11 % die Höhe des EU-Außenzolls erreichen. Preiserhöhungen sind absehbar. Dennoch fiel die Reaktion ungnädig aus. Carolyn Fairbairn, Direktorin der Confederation of British Industry (CBI), sprach von einem Hammerschlag: “Es wäre die größte Änderung unserer Handelskonditionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ohne dass Unternehmen gefragt wurden oder sich darauf vorbereiten konnten.” Ziel der Regierung bleibt es jedoch, das neue Zollregime nie zu benutzen, sondern stattdessen einen Austrittsvertrag mit der EU zu schließen, die Union kontrolliert zu verlassen und ein neues Freihandelsabkommen aufzusetzen. “Deal-Dividende” Gibt es einen “Deal”, dann gibt es auch eine “Deal-Dividende”, versprach Schatzkanzler Philip Hammond am Mittwoch vor dem Parlament. Wenn der chaotische Brexit vermieden werde, würden Konsumausgaben und Investitionen dem Staat mehr Einnahmen bescheren, sagte Hammond bei seiner halbjährlichen Bestandsaufnahme der Staatsfinanzen. Eine stark gewachsene Beschäftigung lässt dem Staat seit Monaten weitaus höhere Steuereinnahmen zukommen als ursprünglich geplant. Die Zusatzeinnahmen erlauben es Hammond, seine Haushaltsziele zu erreichen und gleichzeitig eine Kriegskasse anzulegen. Dieser Spielraum ist inzwischen auf 26,6 Mrd. Pfund gewachsen.Der Schatzkanzler plante, das saisonbereinigte Staatsdefizit bis zum Fiskaljahr 2020/21 unter 2 % des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu drücken. Dieses Ziel ist bereits erreicht, denn das Minus wird im bis Ende März 2019 laufenden Fiskaljahr nur 1,2 % des BIP betragen. So schätzt es das von der Regierung unabhängige Office for Budget Responsibility (OBR). Es hat auch die Wachstumsprognose des BIP für das laufende Kalenderjahr von 1,6 % auf 1,2 % gesenkt.