Vorstoß der Taliban

Berlin evakuiert in Afghanistan

Verzweifelt versuchen die westlichen Verbündeten im Schulterschluss ihre Staatsbürger, Botschaftsangehörigen und Ortskräfte aus Afghanistan zu evakuieren. Kanzlerin Angela Merkel räumt ein, von der schnellen Machtübernahme der Taliban überrascht worden zu sein.

Berlin evakuiert in Afghanistan

wf Berlin

Die Bundesregierung versucht seit dem Wochenende, ihre Staatsbürger sowie für deutsche Organisationen tätige Afghanen vor Gewaltübergriffen der radikal-islamischen Taliban in Sicherheit zu bringen. Die westlichen Verbündeten hatten allesamt die Geschwindigkeit der Entwicklung verkannt. „Wir haben alle – da übernehmen ich auch die Verantwortung – die Entwicklung falsch eingeschätzt“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor der Presse in Berlin. Zuvor hatte bereits Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) Fehler eingeräumt. „Wir haben die Lage falsch eingeschätzt“, sagt Maas in Berlin. Die Geschwindigkeit, mit der die Taliban Kabul eingenommen hätten, sei weder von der Bundesregierung noch von deren Partnern richtig gesehen worden. US-Präsident Joe Biden kündigte für den Abend nach Redaktionsschluss in Washington eine Erklärung an. Dafür kehrt Biden vorzeitig aus seinem Feriensitz Camp David in die US-Hauptstadt zurück.

Blitzartig hatten die radikalislamischen Taliban die Hauptstadt Kabul erobert und die Macht im Land übernommen. Merkel zeigte sich überrascht, dass die afghanische Armee den Taliban keinen oder kaum Widerstand entgegengesetzt hatte. Am Flughafen der Hauptstadt Kabul spielten sich dramatische Szenen ab. Menschen versuchten in Panik das Land zu verlassen, kletterten auf Flugzeuge oder versuchten sich an startenden Maschinen festzuhalten. Drei Flugzeuge der Bundeswehr starteten nach Afghanistan. Offen war Merkel zufolge am Abend, ob die Maschinen dort landen können. Ansprechpartner vor Ort seien die USA und die Türkei.

Abstimmung mit Paris

Eng abgestimmt hat sich Merkel nach eigenem Bekunden mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, um auf die Entwicklung zu reagieren. Am Mittwoch gebe es Treffen der EU-Außen- und Innenminister. Die europäischen Regierungschefs seien in Kontakt und berieten, wann ein europäischer Sonderrat nötig sei. Merkel zufolge geht es um Hilfe für die Nachbarstaaten Afghanistans angesichts der erwarteten Fluchtbewegungen. Die Kanzlerin betonte, dass der Fehler früherer Flüchtlingswellen nicht wiederholt werden dürfe, zu wenig Geld an internationale Einrichtungen wie die Welthungerhilfe oder das Flüchtlingswerk UNHCR zu geben. Am Vormittag hatte Merkel im CDU-Bundesvorstand laut Nachrichtenagentur AFP von 10000 Flüchtlingen gesprochen.

Von den Botschaftsangehörigen hatten Sonntagnacht bereits 40 Beschäftigte der deutschen Botschaft in Kabul das katarische Doha erreicht. Merkel zufolge sind von rund 2500 afghanischen Ortskräften mit ihren Familien, die für die Botschaft oder die Bundeswehr gearbeitet haben, bereits 1900 in den vergangenen Wochen in Deutschland angekommen. Nun gehe es um weitere 1500 Menschen, die in der Entwicklungshilfe etwa für die bundeseigene Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder das staatliche Förderinstitut KfW gearbeitet haben.

Merkel hatte am frühen Abend in Berlin die Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag über die Entwicklung der Lage informiert. Das Parlament muss formal dem Rettungseinsatz der Bundeswehr zustimmen. Dies kann auch im Nachgang geschehen. Das Bundeskabinett berät am Mittwoch. Der Verteidigungsausschuss des Bundestags wird sich noch diese Woche zu einer Sondersitzung treffen, wie bekannt wurde. Die Obleute des Gremiums seien sich einig, dass dies vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen und des Evakuierungseinsatzes der Bundeswehr zeitnah notwendig sei, heißt es in einem Schreiben des Vorsitzenden Wolfgang Hellmich (SPD). Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte für diese Woche alle Termine wegen der Lage in Afghanistan ab. Auch der für den 31. August in Berlin geplante große Zapfenstreich zur Würdigung des Engagements der Bundeswehr in Afghanistan und zu Ehren der 59 im Afghanistan-Einsatz gefallenen Deutschen wird nach Angaben eines Sprechers des Bundesverteidigungsministeriums verschoben.

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