Vertragsverletzungsverfahren

Berlin reagiert gelassen auf Vorwürfe aus Brüssel

Die Bundesregierung hat gelassen auf die Einleitung eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland wegen des umstrittenen EZB-Urteils des Bundesverfassungsgerichts reagiert. Regierungssprecher Steffen Seibert sowie ein Sprecher des...

Berlin reagiert gelassen auf Vorwürfe aus Brüssel

ms/fed Frankfurt

Die Bundesregierung hat gelassen auf die Einleitung eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland wegen des umstrittenen EZB-Urteils des Bundesverfassungsgerichts reagiert. Regierungssprecher Steffen Seibert sowie ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums sagten übereinstimmend, dass man die Ankündigung aus Brüssel zur Kenntnis genommen habe und diese prüfen werde. Danach werde man schriftlich antworten, so Seibert.

Zuvor hatte die EU-Kommission offiziell ein solches Verfahren initiiert. Entsprechende Pläne waren bereits am Dienstag durchgesickert (vgl. BZ vom 9. Juni). Hintergrund ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Mai 2020, mit dem Karlsruhe das EZB-Staatsanleihekaufprogramm PSPP (Public Sector Purchase Programme) als zum Teil nicht konform mit dem Grundgesetz bezeichnet und sich damit auch erstmals offen gegen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gestellt hatte.

Der konkrete Streit ist bereits beigelegt. Nach langem Ringen war eine Einigung zwischen Bundesregierung, Bundestag, EZB und Bundesbank gefunden worden, die inzwischen auch vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet worden ist.

Die EU-Kommission befürchtet trotzdem einen „schwerwiegenden Präzedenzfall“, und zwar „sowohl für die künftige Praxis des deutschen Verfassungsgerichts selbst als auch für die obersten und Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten“. Dahinter steckt die Sorge, dass EU-Mitglieder wie Polen oder Ungarn bestimmte Entscheidungen des EU-Gerichtshofs nicht mehr anerkennen, falls sie ihnen nicht passen. Diese Besorgnis ist insofern nicht unbegründet, als etwa polnische Regierungspolitiker bereits entsprechende Androhungen ausgesprochen haben.

Seit Jahren streiten Juristen über die Frage, ob EU-Recht generell Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht hat – oder nur vor einfachen nationalen Gesetzen. Unter dem Stichwort der Verfassungsidentität hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt argumentiert, dass ein Vorrang des Europarechts entfalle, wenn eine Rechtslage mit dem unveränderlichen Kern des Grundgesetzes unvereinbar sei.

Weitgehend unklar ließ die EU-Kommission, was sie im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nun von der Bundesregierung erwartet. Diese Frage ist allein schon deshalb erheblich, weil die EU-Kommission Strafgelder gegen Deutschland verhängen kann, falls es Berlin nicht gelingt, Brüssel von einer Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens zu überzeugen. Ein Sprecher der EU-Behörde deutete am Mittwoch an: „Letztlich könnte eine Änderung in der Rechtssprechung in Deutschland oder ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine wichtige klärende Funktion haben.“ Er ließ jedoch völlig offen, wie der Beitrag der Bundesregierung aussehen könnte, um eine solche Klärung herbeizuführen.