BFH-Präsident kritisiert verquere Steuerdebatte

Mellinghoff: Unternehmen stehen unter Generalverdacht - "Steuerpflichtige dürfen bis an die Grenzen des Missbrauchs gehen"

BFH-Präsident kritisiert verquere Steuerdebatte

Steuervermeidungsstrategien von Unternehmen sind grundsätzlich nicht zu beanstanden, mahnt das oberste deutsche Steuergericht. Ein Generalverdacht der Steuerhinterziehung sei fehl am Platz. Stattdessen sollte man Staaten, die entsprechende Konstruktionen anbieten, mehr in den Blick nehmen.Von Stephan Lorz, Mainz”Kein Steuerpflichtiger ist gehalten, dass er seine Lebensumstände so ausrichtet, um möglichst viel Steuern zu zahlen.” Und was für Privatleute gelte, treffe auch auf Unternehmen zu, betonte der Präsident des Bundesfinanzhofs (BFH), Rudolf Mellinghoff, bei einer Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Mainz. Er wandte sich damit gegen den Generalverdacht der Steuerhinterziehung, der im Umfeld der Debatte über Steuervermeidungsmodelle gegen heimische und ausländische Unternehmen vorgebracht wird. Steuerpflichtige, so Mellinghoff, dürften vielmehr “bis an die Grenze des Missbrauchs gehen. Es steht ihnen frei, die Steuern zu minimieren.” Wenn das Steuerrecht selbst schon Verschonungstatbestände und Steuerbefreiungen zur politischen Verhaltenslenkung anbiete, dürfe der Steuerpflichtige auch eigene Wege zur Steuervermeidung suchen.Die Debatte über aggressive Steuervermeidung von Konzernen hat im Zusammenhang mit der Luxleaks-Affäre neuen Schwung erhalten. Luxemburg hatte einigen Unternehmen Steuervorbescheide (“tax rulings”) – in Deutschland besser bekannt unter dem Begriff “verbindliche Steuerauskünfte” – im Hinblick auf deren Steuermodell zukommen lassen und dabei deutliche Steuernachlässe akzeptiert. In vier Beihilfeverfahren der EU-Kommission gegen Apple, Amazon, Starbucks und Fiat sowie durch umfangreiche Presseenthüllungen (“Luxleaks”) war offensichtlich geworden, dass eine große Zahl von Unternehmen in vielen EU-Staaten dabei durch konzerninterne Verschiebungen von Gewinnen ihre Steuerlast auf sehr niedrige Prozentsätze senkt – und ihnen diese Formen aggressiver Steuervermeidung durch einzelne nationale Regierungen sogar besonders einfach gemacht worden sind.Mellinghoff zeigte sich in Mainz erstaunt darüber, dass das Verhalten der Unternehmen die Öffentlichkeit oft mehr interessiert als die “sehr entgegenkommende Praxis” der einzelnen EU-Regierungen. Steuervermeidung sei schließlich nur möglich, weil es an einer gemeinsamen Gegenstrategie der Staaten fehle. Rechtlich zu missbilligen sei eine Steuerumgehung nur, wenn tatsächlich ein Missbrauch vorliege. Zumal, so ergänzte Volker Wissing, der FDP-Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz, in einem Debattenbeitrag, man ja von den Unternehmen kaum erwarten könne, dass sie eine Steuermaximierungsstrategie betreiben würden. Dann würden sie im Wettbewerb schnell den Kürzeren ziehen und Marktanteile sowie Umsätze verlieren. Und das sei schließlich auch nicht im Sinne des Fiskus.Zwar hat in der Zwischenzeit die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Initiative gegen die Erosion der Steuerbasis und Gewinnverlagerungen (Base Erosion and Profit Shifting, BEPS) präsentiert und Leitlinien veröffentlicht, auf deren Umsetzung sich die G 20-Staaten unlängst verständigt haben. Dies schließt “tax rulings” ebenso ein wie den verstärkten Informationsaustausch. Doch sind inzwischen mehrere EU-Länder, denen ohnehin schon umstrittene Steuerpraktiken vorgeworfen werden, erneut mit Lockvogelangeboten vorgeprescht. Sie wollen die umstrittenen “Patentboxen” so gestalten, dass Einnahmen aus intellektuellem Eigentum weiterhin steuerbegünstigt werden.Angesichts der in der digitalisierten Welt immer bedeutender werdenden intellektuellen Güter dürften die neuen Steuersparmodelle wieder auf großen Zuspruch stoßen. Zwar darf das Privileg der OECD zufolge künftig nur noch gewährt werden, wenn Unternehmen vor Ort auch wirklich forschen und entwickeln. Doch das ist oftmals eine Frage der Definition. Zugleich liegt darin auch ein Risiko etwa für Deutschland, das Patentboxen bisher nicht kennt. Heimische Unternehmen könnten ihre Forschung ja in besonders steuergünstige Länder verlegen. Großbritannien und Irland haben bereits angekündigt, ihr “Patentbox-Regime” der neuen Rechtslage anzupassen. Das Vehikel dazu heißt in Dublin nun “Knowledge Development Box”. Attraktive Patentboxen”Man muss sich nicht wundern, wenn Unternehmen von den Patentboxen Gebrauch machen und Gewinne oder ihren Unternehmenssitz dorthin verlagern”, stellte Mellinghoff klar. Es sei falsch, wenn steuerpflichtigen Unternehmen schon ein Missbrauch des Steuerrechts vorgeworfen werde, wenn sie nur die Steuerunterschiede zwischen einzelnen Ländern ausnutzten. Stattdessen solle sich die Kritik auf jene Regierungen konzentrieren, fordert der BFH-Präsident, die wie Irland oder die USA das Steuerrecht bewusst gegen andere Staaten einsetzten. Die USA etwa würden Steuerumgehungen ihrer Konzerne billigend in Kauf nehmen, weil es der eigenen Volkswirtschaft und – in diesem Fall – sogar der Positionierung der US-Ökonomie in der Welt insgesamt nutze.Immer schwieriger gestaltet sich die Lage für den Steuergesetzgeber nach Einschätzung von Mellinghoff zudem durch die fortschreitende Globalisierung und digitale Vernetzung. Die Geschwindigkeit der Anpassung an neue Steuergesetze habe “dramatisch zugenommen”. Neue Steuerregelungen seien oftmals nur “für einen kurzen Moment klar, dann aber taucht schon ein neues Steuermodell auf, an das niemand zuvor gedacht hat – und umgehend wird ein neuer Generalverdacht gegen die Unternehmen geäußert”.Um eine drastische Vereinfachung des Steuerrechts komme der Gesetzgeber deshalb nicht herum: ein Verzicht auf übertriebene Einzelfallgerechtigkeit und sozialpolitische Lenkungstatbestände; Pauschalierungen und Typisierungen müssten verstärkt eingesetzt und niedrigere Sätze auf verschiedene Vermögens- und Einkommensarten angewandt werden, um die vielfältigen Abgrenzungsprobleme zu vermeiden, welche das Steuerrecht anfällig machten und verkomplizierten.