LEITARTIKEL

Bis zur letzten Stunde

Heute kommen in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der EU zu ihrem Frühjahrsgipfel zusammen und müssen sich zunächst einmal mehr mit dem Brexit-Chaos beschäftigen. Die britische Premierministerin Theresa May hat gestern nach Brüssel gefunkt,...

Bis zur letzten Stunde

Heute kommen in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der EU zu ihrem Frühjahrsgipfel zusammen und müssen sich zunächst einmal mehr mit dem Brexit-Chaos beschäftigen. Die britische Premierministerin Theresa May hat gestern nach Brüssel gefunkt, sie hätte gerne einen Aufschub des Austritts um rund drei Monate bis zum 30. Juni. Und um die Diskussionen in der EU-27 vorwegzunehmen: May wird wohl auch eine – wie auch immer ausgestaltete – kurzfristige Fristverlängerung erhalten. Obwohl es weiterhin keine überzeugende Strategie auf britischer Seite gibt. Obwohl damit nur die Unsicherheiten für Bürger und Unternehmen verlängert werden. Obwohl der Unmut über den politischen Dilettantismus in London so groß ist wie nie. Aber zu den wenigen sicheren Erkenntnissen im Brexit-Poker gehört halt auch: Niemand hat ein Interesse an einem No-Deal-Szenario. Niemand möchte mit seinem Veto gegen einen Aufschub die Verantwortung für die Folgen einer ungeordneten Trennung tragen. Niemand möchte in diesem Spiel am Ende den Schwarzen Peter in der Hand halten.Das Ringen um eine Fristverlängerung ist eigentlich nur ein weiterer Nebenkriegsschauplatz in der großen Brexit-Debatte. Aber es lohnt sich, an dieser Stelle noch einmal etwas genauer auf die Optionen zu schauen, die der EU-27 in dieser Frage noch bleiben: Eine Verschiebung des Austritts bis zum 22. Mai kann relativ einfach beschlossen werden – auch wenn dadurch keine Probleme gelöst werden. Aber dann beginnen auch schon die rechtlichen Schwierigkeiten. Am Tag danach beginnen nämlich die Europawahlen. Und wenn Großbritannien dann noch Mitglied der Union ist, müsste das Land eigentlich teilnehmen. Dies hatte May aber abgelehnt. Und eine Teilnahme an den Wahlen würde in der derzeitigen Situation wohl bei niemandem auf Verständnis stoßen.Da sich das neue EU-Parlament ja erst Anfang Juli konstituiert, könnte Großbritannien eventuell auch mit seinem Antrag auf Fristverlängerung bis Ende Juni durchkommen. Dies ist im Endeffekt eine politische Entscheidung der Staats- und Regierungschefs. Die Warnungen der EU-Kommission vor den Risiken sind aber nicht völlig unbegründet. Immerhin hat der Europäische Gerichtshof Großbritannien noch ein Ass zugeschoben: London könnte bis zum letzten Tag in der EU den Austrittsantrag noch einseitig zurückziehen. Und sollte May (oder ihr Nachfolger) dieses Ass im Juni ziehen, ohne dass das Land vorher an der Europawahl teilgenommen hat, dann hätte das Brexit-Chaos endgültig auch auf das Funktionieren der europäischen Institutionen übergegriffen.Und ein langfristiger Aufschub? Um ein Jahr? Oder bis zum Ende des laufenden mittelfristigen Haushaltsrahmens Ende 2020? Dies wäre nicht nur in Großbritannien nicht zu vermitteln. Auch die EU-27 hätte kaum Interesse an einer britischen Abgeordneten-Truppe auf Abruf, die noch den nächsten siebenjährigen Finanzrahmen der EU sowie institutionelle und personelle Zukunftsentscheidungen mitbestimmen kann – und dadurch auch ein neues Erpressungspotenzial in die Hand bekäme.Wie man es auch dreht und wendet: Wären die Regierungschefs der EU-27 heute konsequent, müssten sie einer Fristverlängerung eigentlich eine Absage erteilen. Doch aus vielen Hauptstädten – auch aus Berlin – sind weiterhin andere Töne zu hören: Demonstrativ wird den Briten weiter die Tür zu einer Lösung aufgehalten. Bis zum letzten Tag. Bis zur letzten Stunde. Ein wenig Drama auf den letzten Metern? Keine Sorge, die EU ist Spezialist in dieser Disziplin.—–Von Andreas HeitkerGroßbritannien wird einen Brexit-Aufschub erhalten. Damit sind aber keine Probleme gelöst: Wie die künftigen Beziehungen aussehen, ist weiterhin offen. —–