Bojo verliert sein Mojo
Von Andreas Hippin, LondonViele Briten werden schon geahnt haben, dass es keine guten Nachrichten sein würden, als das aus den Corona-Pressekonferenzen bekannte Trio Infernale aus Premierminister Boris Johnson (55), Chief Medical Officer Chris Whitty und Chief Scientific Adviser Patrick Vallance am Mittwoch vor die Kameras trat. Doch nur wenige werden damit gerechnet haben, dass dem Land ein erneuter Lockdown ins Haus steht. Der einst so wortgewaltige Journalist der “Times” und des “Daily Telegraph”, der das Vereinigte Königreich regiert, wirkt zunehmend hilflos, wenn es um die Frage geht, wie der Pandemie Einhalt geboten werden könnte. Für Slogans hat er immer noch ein Gespür: “Rule of Six” hört sich knackig an. Es bedeutet, dass ab Montag nicht mehr als sechs Personen an einem Ort zusammenkommen dürfen, egal ob drinnen oder draußen, im Zuhause oder im Park. Ausdrücklich ausgenommen sind Arbeitsstätten und Schulen, denn man will die Wirtschaft nicht noch einmal mit Vollgas gegen die Wand fahren. Dem auch unter dem Spitznamen Bojo bekannten ehemaligen Londoner Bürgermeister muss es in der Seele weh tun, derart drakonische Maßnahmen zu verkünden, mit deren Hilfe eine “zweite Welle” von Corona-Infektionen vermieden werden soll. Denn die Regierung setzt nicht mehr darauf, dass die Bevölkerung den gesunden Menschenverstand walten lässt. Die “Rule of Six” soll Gesetzeskraft erlangen. Wer dagegen verstößt, kann dann mit Geldstrafen belegt und gegebenenfalls gar festgenommen werden. “Es bricht mein Herz””Natürlich fühle ich mich damit nicht wohl”, sagte Johnson. “Es bricht mein Herz, auf diesen Restriktionen bestehen zu müssen.” Aber seine Aufgabe als Premierminister sei nun einmal, Leben zu schützen. Dabei fehlte ihm nicht nur die Gravitas, über die er noch verfügte, als er vom Covid-Krankenhausbett aufstand, um den Dienst wieder anzutreten. Es war auch nichts mehr von seinem jungenhaften Charme, dem Charisma, dem “Mojo” zu spüren, die ihn einst zum populärsten Politiker Großbritanniens machten. Vielmehr drängte sich der Eindruck auf, dass hier einer sprach, der mit seinem Latein am Ende ist. Die ständigen Kurswechsel, die zahllosen Ankündigungen, auf die keine Taten folgten, und die widersprüchlichen Handreichungen seiner Regierung zur Bekämpfung von Covid-19 haben dazu geführt, dass am Ende keiner mehr wusste, was noch Gültigkeit besitzt. Viele Menschen gingen daraufhin wieder ihrem Leben nach, als gäbe es keine weltweite Pandemie. Die Bevölkerung teilte sich in solche, die Maske trugen und auf soziale Distanz achteten, und andere, denen alles egal zu sein schien.Nun folgt auf wenige Wochen der Lockerung der Ausgangsbeschränkungen, während deren man sich im Pub treffen oder zusammen an den Strand fahren konnte, eine erneute Eiszeit, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Johnsons Obermediziner Whitty kündigte bereits an, dass “die Zeit von jetzt bis zum Frühling schwierig wird”. Mehr Understatement ist schwer vorstellbar, haben doch viele junge Menschen, bei denen schwere Krankheitsverläufe extrem selten zu beobachten sind, bereits jetzt die Nase voll von den Maßnahmen, die aus ihrer Sicht allein dem Schutz der Älteren dienen. Kein Wunder, dass zum Beginn des Wintersemesters bereits von einer landesweiten nächtlichen Ausgangssperre die Rede ist. Dabei dürfte sich so etwas gar nicht durchsetzen lassen, selbst wenn künftig “Covid-Marschälle” in den Straßen patrouillieren sollten. Die Tumulte, die es bei der Auflösung illegaler Open-Air-Musikveranstaltungen im Sommer gab, hätten den Ordnungshütern die Grenzen des Möglichen aufzeigen müssen. Der Einzelhandel weigerte sich schon, die Maskenpflicht beim Einkauf anzumahnen, um seine Mitarbeiter nicht zu gefährden.Wenn nun autoritäre Lösungen vorgeschlagen werden, zeigt sich darin nur das Ausmaß der Verzweiflung. Wenn Johnson dazu noch von einem Testregime der Zukunft fabuliert, das eine Rückkehr zur bisherigen Normalität ermöglichen soll, fragt man sich mit Blick auf den Ist-Zustand, wer das eigentlich noch ernst nehmen soll. Bojo wollte als Premier in die Geschichte eingehen, der das Land erfolgreich aus der EU in die Unabhängigkeit geführt hat. Am Ende wird man sich aber wohl nur noch an seinen Umgang mit der Pandemie erinnern.