GASTBEITRAG

Brexit: Nur Sturm im Wasserglas? Keineswegs!

Börsen-Zeitung, 19.5.2016 Am 23. Juni wird in Großbritannien ein Referendum über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union abgehalten. Dabei ist keine Mindestwahlbeteiligung erforderlich und es genügt eine einfache Mehrheit der Stimmen. Das...

Brexit: Nur Sturm im Wasserglas? Keineswegs!

Am 23. Juni wird in Großbritannien ein Referendum über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union abgehalten. Dabei ist keine Mindestwahlbeteiligung erforderlich und es genügt eine einfache Mehrheit der Stimmen. Das Ergebnis des Referendums ist bindend.In vielen Umfragen liegen die beiden Lager zum Teil recht dicht beieinander. Im Gegensatz dazu zeigen die Wettquoten der Buchmacher aktuell nur eine Wahrscheinlichkeit von rund 30 % für einen Austritt. Da sich allerdings wichtige Konservative (wie beispielsweise Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson oder Justizminister Michael Gove) für den Austritt aus der EU ausgesprochen haben, sehen wir aktuell ein 40-prozentiges Risiko, dass die Briten beim Referendum für einen Austritt stimmen werden. Was wäre für Kapitalanleger die Konsequenz eines Brexit? Brexit ist nicht GrexitZunächst die beruhigende Nachricht: Der Gleichklang des Wortes Brexit zu Grexit suggeriert eine Ähnlichkeit hinsichtlich der Vorgänge und Wirkungen. Wir haben es bei Brexit und Grexit aber mit völlig unterschiedlichen Sachverhalten zu tun. Es handelt sich beim Brexit nicht um die Aufgabe einer Währung oder gar den Default eines Landes. Alle abgeschlossenen Verträge in britischen Pfund laufen weiter, der Brexit ist kein disruptives Ereignis mit Blick auf Forderungen und Verbindlichkeiten in britischen Pfund. Die Unsicherheit beim Grexit, was mit den Verträgen passieren wird, haben wir beim Brexit nicht.Technisch gesehen würde am Montag nach der Abstimmung, also dem 25 Juni, zunächst alles weiterlaufen wie bisher. Die Abstimmung verpflichtet die Regierung zunächst nur dazu, einen Ausstieg aus der EU zu verhandeln. Eine Abstimmung pro Brexit würde demnach nicht sofort zu einem Austritt Großbritanniens aus der EU führen, sondern erst nach einem langwierigen Verhandlungspoker über voraussichtlich zwei Jahre. Eine frühere Verständigung über die Anschlussregeln ist angesichts der Komplexität nicht zu erwarten. Während des Verhandlungsmarathons würde sich die Welt weiterdrehen und mit ihr die EU mit Großbritannien.Die Spekulation über mögliche Auswirkungen nimmt aber volle Fahrt auf. Die Kapitalanleger werden ein neues Gleichgewicht von Chance und Risiko suchen. Es kommt voraussichtlich zu einem Anstieg der Risikoaversion. Großbritannien würde in eine Rezession abgleiten und folglich den Aktienmarkt belasten, insbesondere Finanztitel sollten aufgrund der Bedeutung des Finanzplatzes London besonders unter Druck geraten. Das britische Pfund würde abwerten, sowohl gegen den Euro als auch insbesondere gegenüber dem Dollar. Die britische Zinsstrukturkurve sollte steiler werden, da die Bank of England versuchen dürfte, das kurze Ende auf niedrigen Niveaus zu verankern, indem sie den Märkten Liquidität zuführt. Das lange Ende hingegen könnte unter Druck geraten, da die Märkte alle Arten von Risikoprämien (Inflation, Credit, Politik und weitere) und Unsicherheit einpreisen werden. Der Immobilienmarkt würde in der Folge deutlich korrigieren. Stabilisierende AspekteEs gibt aber auch stabilisierende Aspekte. Bei der hohen außenwirtschaftlichen Verflechtung Großbritanniens darf nicht die starke Binnenwirtschaft übersehen werden. Großbritannien ist ein “großes” Land, deutlich größer und stärker als manches Land der Eurozone. Gewisse Investitionen in Großbritannien, zum Beispiel im Energiesektor, sind auf die Binnenwirtschaft ausgerichtet und dürften von einem Brexit unmittelbar kaum betroffen sein. Für den Finanzplatz London hat der Brexit deutliche Auswirkungen, es helfen allerdings die langen Übergangszeiten bei der Neuorientierung.Die negativen Szenarien werden von Marktteilnehmern bereits heute durchgespielt und sind ansatzweise in den Marktreaktionen schon sichtbar geworden. Abhängig von der weiteren Marktentwicklung im Vorfeld der Abstimmung, kann bei Eintritt schon ein Teil vorweggenommen sein.Für den Augenblick gehen wir davon aus, dass sich der Brexit als ein unsicheres Ereignis darstellt. Weder die aktuell verbesserten Umfragen in der Bevölkerung noch Quoten in den Wettbüros können als verlässlicher Indikator angehen. Eine Überraschung in die eine oder andere Richtung ist möglich. Pfund bleibt als WährungWie agieren Versicherungsanleger in ihren auf britische Pfund lautenden Vermögensbeständen? Viele Investoren legen entsprechend längerfristige Asset-Liability-Überlegungen an, das heißt sie stimmen die Rückzahlungen aus ihren Kapitalanlagen auf ihre Verbindlichkeiten ab. Der größte Teil der Vermögenstitel in britischen Pfund deckt also entsprechende Zahlungsverpflichtungen ab, die sich bei einem Brexit nicht ändern würden. Das britische Pfund bleibt als Währung.Mit Ausnahme kurzfristiger Unter-bzw. Übergewichtungen ist man also gut beraten, die Allokation der Kapitalanlage nicht fundamental zu ändern. Wahrscheinlich ist auch, dass sich Anleger neutral mit Blick auf ihre Zahlungsverbindlichkeiten positionieren und so stabilisierend wirken.Vor dem Hintergrund der verbesserten Umfrageergebnisse also alles nur ein Sturm im Wasserglas? Keineswegs! Wenn er denn eintritt, hat der Brexit enorme Sprengkraft. Der britische Weg könnte anderen Staaten als Vorbild dienen. Schon heute ist eine europakritische Haltung in vielen Ländern der EU, insbesondere der Europäischen Währungsunion, anzutreffen. Diese manifestiert sich auch in dem Erstarken nationalistischer und rechtspopulistischer Parteien wie zum Beispiel des Front National in Frankreich, der FPÖ in Österreich oder auch der AfD in Deutschland.Es muss nicht gleich zu weiteren Abstimmungen oder gar Austritten kommen, aber alleine die Unsicherheit darüber reicht, grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten in Europa zu lähmen. Diese Unsicherheit wird während der Verhandlungen Großbritanniens mit der EU über das neue Verhältnis zueinander aber auch darüber hinaus über Jahre hinweg anhalten und sich wie Mehltau über die Wirtschaft in Europa legen – auch zum Nachteil für Europas Bedeutung in der Welt.Alarmierend ist, dass Großbritannien den Austritt zur Abstimmung stellt, obwohl die Briten von den Folgen der Euro-/Verschuldungskrise bei weitem nicht am stärksten betroffen sind. Mit den extrem niedrigen Zinsen haben sich die stark verschuldeten Länder der Eurozone Zeit gekauft, um die Restrukturierung ihrer Wirtschaft zeitlich strecken zu können und die Folgen verkraftbar zu halten. Anders als Großbritannien können diese Länder nicht abwerten, um ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder zu erlangen. Sie müssen den harten Weg der Zurückhaltung bei Löhnen und Gehältern gehen und ihre Verschuldung mit einem strikten Sparkurs zurückführen.Zeigt nun Großbritannien, dass ein Austritt ein vergleichsweise leicht gangbarer Weg ist, mit welchem Argument sollen Abstimmungen in anderen Ländern der Eurozone verwehrt werden? Die einen wollen austreten, um über Abwertung und Schuldenschnitt einen Neuanfang zu starten. Die anderen wollen austreten, weil sie nicht mehr Teil einer immer stärkeren Schuldenunion sein wollen. Ob Spanien oder Finnland, Europa droht die Spaltung, der Eurozone droht die Auflösung. Die auf Großbritannien isolierten Folgen eines Brexit sind womöglich überschaubar und verkraftbar, die Bedeutung des Brexit für Europa und die Eurozone sind es nicht. Domino-EffekteDie wahre Gefahr des Brexit liegt also in der Folgewirkung auf Europa. Die potenziellen Domino-Effekte sind erheblich. Was können Kapitalanleger tun? Eine einfache Antwort gibt es auch hier nicht – die Risiken sind beschrieben, es bieten sich aber wie bei jeder Störung und jedem Schock auch Chancen. Das gilt natürlich auch, wenn die Abstimmung scheitert und der Markt wieder korrigiert. Es gilt eine bewusste Risikoabschätzung einzugehen, Risikobudgets zu prüfen, um mit der Volatilität konstruktiv im Sinne der Anleger umgehen zu können. Dafür aber ist – wie so oft – eine Meinung und entsprechend eine Positionierung notwendig.—-Philipp Waldstein, Geschäftsführer, Meag