LEITARTIKEL

Brüchiger Waffenstillstand

Kapitulation, Waffenstillstand oder Frieden - was haben die weißen Flaggen zu bedeuten, mit denen die britische Premierministerin Theresa May und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Freitag aufeinander zugingen? Ihrer gemeinsamen...

Brüchiger Waffenstillstand

Kapitulation, Waffenstillstand oder Frieden – was haben die weißen Flaggen zu bedeuten, mit denen die britische Premierministerin Theresa May und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Freitag aufeinander zugingen? Ihrer gemeinsamen Absichtserklärung ist nichts Konkretes zu entnehmen. Man sei sich in nichts einig, solange man sich nicht in allem einig sei, heißt es dort gleich zum Einstieg in die zweite Phase der Brexit-Verhandlungen.Der vorweihnachtliche Frieden, den sie sich mit warmen Worten erkauft zu haben glauben, könnte schon vor den Feiertagen enden, obwohl prominente Austrittsbefürworter wie Boris Johnson und Michael Gove ihrer Parteichefin demonstrativ den Rücken stärkten. Denn selten war eine britische Regierung so zerstritten. Angeblich musste May einschreiten, um einen lautstarken Streit zwischen Verteidigungsminister Gavin Williamson und Schatzkanzler Philip Hammond zu beenden, bei dem es um Sparvorgaben für die Armee ging. Die Verfechter einer engen Anbindung an die EU und die Fürsprecher eines klaren Schlussstrichs stehen sich unversöhnlich gegenüber. Hammonds Versprechen, Großbritannien werde seine Verbindlichkeiten gegenüber der EU auf jeden Fall begleichen, trat sogleich der für den Brexit zuständige Staatssekretär David Davis entgegen, der nur in Verbindung mit einem Freihandelsabkommen dazu bereit wäre. Der Waffenstillstand im Kabinett ist brüchig. Die Anhänger eines möglichst kuscheligen Brexit sind in der Minderheit.Wenn es nicht mehr nur um die Konditionen des Austritts, sondern darum geht, wie die Zukunft des Landes jenseits der EU aussehen soll, lassen sich die immensen Widersprüche in der Partei nicht mehr unter den Tisch kehren – aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Fragt man ganz normale Menschen außerhalb Londons nach ihrer Meinung, haben die wenigsten Verständnis dafür, Brüssel noch einen zweistelligen Milliardenbetrag hinterherzuwerfen. Die wenigsten, die für den Brexit votierten, haben ihre Entscheidung seitdem bereut. Sie glauben allerdings, dass die Regierung im ihnen fernen Westminster die Austrittsverhandlungen schlecht führt, und fürchten, dass an deren Ende ein für sie schlechtes Ergebnis stehen wird. Den Austrittsbefürwortern von einst machen die wenigsten Vorwürfe. Während die großen Wirtschaftsverbände darauf hoffen, dass nach monatelangem Chaos nun endlich Ruhe einkehrt und die Geschäfte mit Resteuropa möglichst genauso weiterlaufen wie zuvor, wetzen Mays Parteifeinde mit Blick auf die Meinungsumfragen bereits die Messer. Vor dem Jahreswechsel werden sie ihre Regierung zwar nicht zu Fall bringen wollen, erst muss das Austrittsgesetz durchs Parlament gebracht werden. Danach könnten die Gegner des vermeintlichen Ausverkaufs jedoch zur Tat schreiten.In Brüssel fürchtet man einen chaotischen Abgang der Briten inzwischen mehr als ein paar Zugeständnisse an London. Juncker wird bereits als der Kommissionspräsident in die Geschichte eingehen, der es nicht vermochte, Großbritannien in der Staatengemeinschaft zu halten. Ein dramatisches Herausfallen des Landes aus der EU, das mit hohen Kosten für die Wirtschaft der verbleibenden Mitgliedsländer verbunden wäre, kann er sich zum Ende seiner Amtszeit nicht leisten. Für die geordnete Abwicklung des Austritts ist er auf May und ihren Kofferträger Oliver Robbins angewiesen. Deshalb schlägt die Kommission nun einen weitaus konzilianteren Ton an. Ihr dürfte helfen, dass die gemäßigten Brexiteers Johnson und Gove ihr Projekt zum Abschluss bringen wollen. Für beide spielt es keine große Rolle, ob es etwas länger dauert, bis die juristische Oberhoheit des Europäischen Gerichtshofs endet. Denn ist der Austritt erst vollzogen, kann Großbritannien seine eigenen Gesetze machen, ungeachtet dessen, was zuvor per Absichtserklärung mitgeteilt wurde. Allerdings könnten sie von konservativen Hinterbänklern, die May absetzen wollen, zum Jagen getragen werden.Die Opposition braucht May dagegen nicht zu fürchten. Labour hat das Problem, dass ihre traditionelle Basis für den Austritt gestimmt hat und mit den proeuropäischen Akademikern, von denen die Partei in den Großstädten geprägt wird, nicht viel gemein hat. Selbst die schottische Nationalistenführerin Nicola Sturgeon ist auf die Brexit-Befürworter im hohen Norden der Insel angewiesen, um bei den Regionalwahlen eine Mehrheit zu erreichen. Die tiefe Zerrissenheit der Tories ist das größte Risiko für einen geordneten Austrittsprozess.——–Von Andreas HippinTheresa May hat davon profitiert, dass man in Brüssel einen chaotischen Abgang der Briten mehr fürchtet als ein paar Zugeständnisse an London.——-