LEITARTIKEL

Chance für einen Neustart

Die Wahl von Ursula von der Leyen zur neuen Präsidentin der Europäischen Kommission war knapp und bis zuletzt offen. Nur neun Stimmen mehr als nötig erhielt die CDU-Politikerin im Europaparlament. Und das auch wohl nur, weil die Führung der...

Chance für einen Neustart

Die Wahl von Ursula von der Leyen zur neuen Präsidentin der Europäischen Kommission war knapp und bis zuletzt offen. Nur neun Stimmen mehr als nötig erhielt die CDU-Politikerin im Europaparlament. Und das auch wohl nur, weil die Führung der EU-Sozialdemokraten kurz vor der Abstimmung noch entschied, sie zu unterstützen. Oder lag es doch an den britischen Abgeordneten, die in wenigen Wochen vielleicht gar nicht mehr im Parlament sitzen werden? Oder waren im Endeffekt die Vertreter der umstrittenen rechtsnationalen polnischen Regierungspartei PiS die Königsmacher? Die Wahl war geheim, so ist es müßig, darüber zu spekulieren. Aber klar ist: Das EU-Parlament hat von der Leyen nur ein äußerst schwaches Mandat erteilt. Vorschusslorbeeren sehen sicherlich anders aus.Vielleicht war dies nach dem vorangegangenen Nominierungsprozess auch nicht anders zu erwarten gewesen. Die bisherige Bundesverteidigungsministerin kann zwar nichts dafür, dass sie keine Spitzenkandidatin im Europawahlkampf gewesen ist und dann wie Kai aus der Kiste von den Staats- und Regierungschefs auf den Schild gehoben wurde. Aber bei vielen Europaabgeordneten ist die Wut auf das Vorgehen des Europäischen Rates noch immer sehr groß. Und vielleicht auch Wut auf die Unfähigkeit des eigenen Parlaments, sich nach der Europawahl auf einen der Kandidaten zu einigen. Das EU-Parlament hatte damit ja eine gehörige Mitschuld daran, dass das Spitzenkandidaten-Modell so gegen die Wand gefahren wurde. Von daher kann es von der Leyen schon als Erfolg verbuchen, dass sie es überhaupt ins Ziel geschafft hat. Wahrscheinlich hat erst ihre leidenschaftliche, selbstbewusste und ausgesprochen proeuropäische Rede im Plenum von Straßburg, in der sie viele programmatische Forderungen aus den einzelnen Fraktionen aufgegriffen hat, hierfür den Ausschlag gegeben.Um es ganz deutlich zu sagen: Dass von der Leyen jetzt Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker an der Kommissionsspitze wird, ist keinesfalls das Ergebnis irgendwelcher undemokratischen Hinterzimmer-Deals, wie es jetzt vereinzelt wieder dargestellt wird. Vielmehr hat ein grundsätzlich zwar begrüßenswertes, aber unausgereiftes Spitzenkandidaten-Modell nach der Europawahl in eine Sackgasse geführt. Und da galt es, in einem relativ transparenten Prozess rasch Alternativkandidaten zu finden. Von der Leyen tritt ihr neues Amt jetzt mit einer doppelten Legitimität an: Die (demokratisch gewählten) Staats- und Regierungschefs haben sich nahezu einstimmig auf sie geeinigt. Und das (demokratisch gewählte) EU-Parlament hat ihre Kandidatur bestätigt. Mehrheit ist Mehrheit. Möglicherweise hätte auch der Sozialdemokrat Frans Timmermans im Rat und dann später im Parlament die notwendigen Mehrheiten erhalten. Doch die Gefahr, dass sich damit nur die Gräben innerhalb der EU noch verbreitert hätten, da er gegen den Widerstand Osteuropas und Italiens hätte durchgesetzt werden müssen, ist nicht von der Hand zu weisen.Mit einer Kommissionspräsidentin von der Leyen gibt es jetzt die Chance für einen Neuanfang. Dies betrifft die Diskussion um eine stärkere Demokratisierung der Union, einschließlich einer Wahlrechtsreform vor der nächsten Europawahl. Dies betrifft die Blockaden in der Asyl- und Migrationspolitik oder bei der weiteren Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion. Von der Leyen hat in ihren bisherigen politischen Ämtern bereits gezeigt, dass sie resolut für ihre Überzeugungen streiten, aber auch, dass sie Brücken bauen kann. Vielleicht ist es dies, was Europa aktuell braucht. Dass die neue Kommissionschefin bei der Suche nach einer Reform der EU auch die Bürger in einem zweijährigen Diskussionsprozess beteiligen will, ehrt sie. Auch Juncker hatte vor gut zwei Jahren schon eine breite europäische Debatte über die Zukunft der EU initiiert. Sie ist irgendwie im Nichts versandet. Es bleibt zu hoffen, dass es dieses Mal anders wird.——Von Andreas HeitkerDas EU-Parlament hat Ursula von der Leyen nur ein äußerst schwaches Mandat erteilt. Dennoch stehen die Chancen gut für einen Neuanfang in der EU.——