BREXIT WIRFT VIELE FRAGEN AUF

Chaostage in London

George Osborne will Finanzmärkte beruhigen - Morgan Stanley: Leave bedeutet Leave - Labour implodiert

Chaostage in London

Schatzkanzler George Osborne bemüht sich, den Fall-out des Brexit-Votums der Briten an den Finanzmärkten zu vermindern. Das Austrittsverfahren soll erst vom Nachfolger von Premier David Cameron eröffnet werden. Unterdessen hoffen viele derer, die für den Verbleib gestimmt haben, darauf, den EU-Austritt noch stoppen zu können.Von Andreas Hippin, LondonIn den Bürotürmen des Londoner Bankenviertels waren die Handelsräume auch in der Nacht zum Montag gut besetzt. Die morgendlichen Meetings wurden unterbrochen, um der Fernsehansprache von Schatzkanzler George Osborne zu lauschen. “Wir waren auf das Unerwartete vorbereitet und sind für alles gerüstet”, versicherte Osborne, der in den vergangenen Tagen sehr viel unterwegs war, um für den Fall schwerer Verwerfungen an den Finanzmärkten ein koordiniertes Vorgehen sicherzustellen. Man solle die Entschlossenheit der Regierung nicht unterschätzen.Zum weiteren Vorgehen beim Austritt aus der EU sagte er, dass nur Großbritannien selbst ein Verfahren nach Artikel 50 einleiten könne. Das sollte es nur tun, wenn klar sei, wie sich die Beziehungen zu den europäischen Nachbarn künftig gestalten. Vom wenige Tage vor dem Referendum gemeinsam mit seinem Vorgänger Alistair Darling (Labour) vorgestellten Brexit-Sparhaushalt war keine Rede mehr.Befürworter des Verbleibs in der EU haben eine Reihe von Initiativen gestartet, um den Austritt doch noch abzuwenden. Eine Petition für ein zweites Referendum wurde von mehr als drei Millionen Menschen unterzeichnet. Tony Blairs ehemaliger Kulturminister David Lammy, der für Tottenham ins Parlament gewählt wurde, forderte die Unterhausabgeordneten dazu auf, den Brexit nicht abzusegnen. Schließlich habe das Referendum nur beratenden Charakter und sei nicht rechtsverbindlich.Der bei der US-Investmentbank Morgan Stanley für Großbritannien zuständige Chefvolkswirt für Großbritannien, Jacob Nell, räumt all dem wenig Chancen ein. “Leave bedeutet Leave. Es war ein klares Ergebnis bei hoher Wahlbeteiligung und kann nicht ignoriert werden”, sagte er in London vor Journalisten. Ohne Auflösung des Parlaments sei schwer vorstellbar, wie man so etwas rückgängig machen könnte. Für eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen wären entweder zwei erfolgreiche Misstrauensvoten oder die Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten nötig. Dazu müsste ein Drittel der konservativen Volksvertreter mit der Opposition stimmen. Das werde nicht passieren, denn man wisse, dass derart gespaltene Parteien vom Wähler abgestraft werden. Aus seiner Sicht ist der 1. Januar 2019 das wahrscheinliche Austrittsdatum. Niemand werde vor Oktober ein Verfahren nach Artikel 50 einleiten wollen. Zivilisiert oder verbittertKomme es zu einer “zivilisierten Scheidung”, bestehe die Chance, dass eine Rezession abgewendet werden könnte, so Nell. Das würde voraussetzen, dass sich die politischen Parteien schnell auf eine neue Führung einigen, sich relativ schnell ein konstruktiver Rahmen für Verhandlungen mit der EU abzeichnet und Schottland und Nordirland zwar grollen, aber im Vereinigten Königreich bleiben. Dann könnten die Verbraucher weiter Geld ausgeben. Das schwächere Pfund würde sich positiv im verarbeitenden Gewerbe und beim Handel bemerkbar machen. Die Bank of England könnte die Zinsen stabil halten, selbst wenn die Inflation über den Zielwert von 2,0 % hinaus steigen würde.Im Falle einer “verbittert ausgefochtenen Scheidung” sei dagegen eine Verlangsamung des privaten Konsums und eine Zunahme des Angstsparens zu befürchten. Dann würden die Geldpolitiker wohl die Zinsen senken, vielleicht schon im November um 10 Basispunkte. Auch weitere Anleihenkäufe der Notenbank seien dann möglich. Es gebe auch Optionen für radikalere fiskalpolitische Experimente, etwa Gutscheine mit Verfallsdatum, um den Konsum anzuregen.Um der jüngsten Pfundabwertung entgegenzuwirken, werde die Bank of England nicht die Zinsen erhöhen. Die Notenbank sei “äußerst entspannt”, was den Kursverfall in den vergangenen Tagen angehe. Die Zentralbank verfügt über umfangreiche Währungsreserven und hat für alle Fälle Swap-Linien bei der EZB und der Federal Reserve eingerichtet.Ob in der U-Bahn oder an der Fußgängerampel: Das Thema Brexit wird allerorten heiß diskutiert. Unterdessen tobt in der oppositionellen Labour Party ein erbitterter Machtkampf zwischen dem von den Mitgliedern mit großer Mehrheit gewählten Parteichef Jeremy Corbyn und der Parlamentsfraktion. Die Abgeordneten werfen dem Parteichef vor, nicht genug gegen den drohenden EU-Austritt unternommen zu haben.Nachdem Corbyn am Wochenende den im Falle eines Wahlsiegs für das Außenministerium vorgesehenen Hilary Benn entlassen hatte, reichten elf weitere Mitglieder des “Schattenkabinetts” ihren Rücktritt ein. Am Montag folgten weitere acht. Die Fraktion wird von sogenannten Blairites dominiert, ehemaligen Gefolgsleuten Tony Blairs. Der ehemalige Premierminister ging selbst an die Öffentlichkeit, um der Parteiführung vorzuwerfen, “ziemlich lauwarm” in ihrer Unterstützung für Remain gewesen zu sein. Man habe nicht vermittelt, “dass das keine Protestwahl gegen die Regierung oder etwa das Establishment war”. Man werde nicht zulassen, dass dieser Putsch Erfolg habe, hieß es von einem Sprecher Corbyns.Tatsächlich kann der Parteichef nur von einer Mehrheit der Mitglieder abgewählt werden. Labour ist wegen der innerparteilichen Auseinandersetzungen derzeit kaum in der Lage, einen konstruktiven Beitrag für den Zusammenhalt des Landes zu leisten. Für zusätzliche Irritationen sorgte am Wochenende die schottische Nationalistenführerin Nicola Sturgeon mit der Aussage, das schottische Parlament könne verhindern, dass ein Brexit in Schottland wirksam werde.