Chaostage in Westminster

May-Gegner formieren sich - Berlin: Risiko eines harten Austritts steigt

Chaostage in Westminster

Diplomaten in Brüssel sehen eine neue Dynamik in den Brexit-Gesprächen. In London wächst unterdessen die Gefahr, dass Premierministerin Theresa May für einen möglichen Deal keine Mehrheit im Parlament findet. Das Berliner Finanzministerium sieht die Gefahr eines harten Brexit steigen.hip/ahe London/Brüssel – Während in Brüssel um Details gerungen wird, zeichnet sich in London ab, dass Premierministerin Theresa May für den von ihr angestrebten Deal keine Mehrheit im Unterhaus haben wird. Aus der Downing Street wurde Journalisten geraten, die jüngsten Berichte über eine Einigung “mit einer Prise Salz” zu genießen, nachdem wieder einmal Meldungen über eine unmittelbar bevorstehende Übereinkunft kursierten. Entwicklungshilfeministerin Penny Mordaunt erinnerte daran, dass das Kabinett dem Parlament etwas vorlegen müsse, mit dem das Ergebnis des EU-Referendums umgesetzt wird. Im Kabinett wächst Medienberichten zufolge das Unbehagen über den im Juli von May aus ihrem Landsitz Chequers durchgesetzten Kompromiss. Der ehemalige Außenminister Boris Johnson rief seine früheren Kollegen zur Meuterei auf. Sein jüngerer Bruder Jo Johnson trat von seinem Amt als Staatssekretär für Verkehr zurück und forderte eine erneute Volksabstimmung. Auch die ehemalige Bildungsministerin Justine Greening warb für ein weiteres Referendum.Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sind unübersichtlich. May regiert mit hauchdünner Mehrheit und auch das nur dank der Unterstützung der nordirischen Unionisten. Die Democratic Unionist Party kritisierte allerdings zuletzt die Richtung, in die sich die Verhandlungen mit Brüssel entwickelten. Ohne ihre zehn Abgeordneten wäre May auf wechselnde Mehrheiten angewiesen. Der von Jacob Rees-Mogg geführte European Research Group gehören bis zu 80 Brexiteers aus den Reihen der Tories an. Rees-Mogg kündigte bereits an, gegen Mays Deal zu stimmen. Man darf davon ausgehen, dass ihm seine Anhänger folgen werden. Dann gibt es noch 13 konservative Abgeordnete aus Schottland, für die der Erhalt der Union Priorität hat, und um die 16 Remainer, denen an einem weiteren EU-Referendum mehr gelegen sein könnte als am Erfolg der Regierung May. Könnte die Premierministerin auf Gegner eines harten Brexit aus den Reihen der Opposition setzen, um ihren Deal durchzuboxen? Das gilt als eher unwahrscheinlich, denn die Zahl der möglichen Labour-Rebellen wird auf bestenfalls 30 geschätzt. Die nordirischen Republikaner nehmen ihre sieben Mandate in Westminster aus prinzipiellen Erwägungen nicht wahr. Auch mit ihrer Unterstützung ließen sich die Brexiteers nicht in Schach halten. “No Deal Plus”Rees-Mogg sagte dem “Sydney Morning Herald”, er halte ein mehr oder weniger zufälliges Herausbrechen des Landes aus der EU ohne jede Übereinkunft für das wahrscheinlichste Szenario. “Es gibt dafür keine große Kampagne, aber es könnte einfach passieren, ohne dass es jemand wirklich geplant hat”, sagte der prominente Brexiteer. “Und es könnte zu jedem Zeitpunkt passieren. Niemand hat darüber besondere Kontrolle.” In der “Mail on Sunday” bot er der EU seinerseits einen Deal an: “No Deal Plus” – 20 Mrd. Pfund für eine 21-monatige Stillhalteperiode bis zum endgültigen Austritt. “Ein großzügiges Angebot”, wie er findet.Die Bundesregierung hat unterdessen noch einmal auf die wachsende Gefahr eines ungeordneten EU-Austritts Großbritanniens hingewiesen. Das Risiko sei gestiegen, betonte Finanzstaatssekretär Jörg Kukies gestern auf einer Bankenkonferenz in Frankfurt. Die Bundesregierung bereite sich darauf vor, dass der Brexit möglicherweise bereits am 29. März 2019 ohne Übergangsregelung vollzogen werde. Die verhältnismäßige Ruhe an den Finanzmärkten wertete Kukies allerdings als Vertrauensbeweis. “Die Märkte nehmen uns ab, dass wir die Risiken gut im Griff haben.”Nach Kukies Worten haben bereits 30 Finanzdienstleister Erlaubnisanträge gestellt, um künftig ihre Geschäfte von Deutschland aus machen zu können. Ziel sei, dass diese Institute nicht nur einige Hundert, sondern Tausende Jobs nach Deutschland verlagern: “Das ist unsere große Ambition.”In Brüssel briefte gestern EU-Verhandlungsführer Michel Barnier die Europaminister der Mitgliedstaaten über den Stand der Dinge. Die Unterhändler hatten nach Angaben von Diplomaten in der Nacht zuvor bis angeblich 3 Uhr zusammengesessen, ohne allerdings zu greifbaren Ergebnissen zu kommen. “Die Verhandlungen haben wieder an Dynamik zugenommen”, sagte der österreichische EU-Minister Gernot Blümel. Staatsminister Michael Roth (SPD) bestätigte am Rande des Treffens noch einmal, dass eine Zollunion der EU mit Großbritannien eine Backstop-Lösung sei, über die noch verhandelt werde. Diese könne eine Option sein. “Dabei muss gewährleistet sein, dass es zu keinen unfairen Beziehungen kommt”, betonte er. Hohe Umwelt-, Arbeitsmarkt- und Sozialstandards müssten auf beiden Seiten gesichert bleiben.