China plagt sich mit Wachstumsziel

Gratwanderung zwischen Konjunkturstabilisierung und Reformversprechen

China plagt sich mit Wachstumsziel

Von Norbert Hellmann, SchanghaiDer 5. März ist gekommen, der Tag an dem Chinas Wirtschaftslenker jährlich Bilanz ziehen. Zum Auftakt des Nationalen Volkskongresses am heutigen Mittwoch soll Premierminister Li Keqiang vor den rund 3 000 Delegierten Rechenschaft über den Zustand der Wirtschaft und der öffentlichen Finanzen ablegen und – wichtiger noch – die konjunktur- und reformpolitischen Ziele für das laufende Jahr fixieren. SchlüsselfrageVor dem Hintergrund einer neuen Reformagenda, die Chinas Parteiführung Ende vergangenen Jahres vorgestellt hat, wird die offiziell angepeilte Zielvorgabe für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukt (BIP) zur Schlüsselfrage. Schließlich laufen die Lippenbekenntnisse der chinesischen Reformer darauf hinaus, den Stimulierungsexzessen der Vergangenheit abzuschwören, um China auf einen moderateren, aber langfristig aufrechterhaltbaren Wachstumspfad zu bringen. Dieser soll Raum für strukturelle Anpassungen und eine stärker marktorientierte Lenkung der Wirtschaft bieten.Das offizielle Wachstumsziel ist bislang nie unterschritten worden und es gilt, den Mythos der exakten Wirtschaftslenkung durch Partei und Regierung zu wahren. So muss man in Peking die diesjährige Marke sehr vorsichtig ausloten, denn der Spielraum nach oben ist dünn geworden. In früheren Jahren peilte man grundsätzlich ein Wachstum von 8 % als Mindestziel an und konnte sich darauf verlassen, dass die tatsächlichen BIP-Expansionsraten bei 10 % und mehr lagen.Seit 2011 allerdings macht China eine hartnäckige konjunkturelle Abkühlungsphase durch. Das 2012 erstmals auf 7,5 % heruntergeschleuste Wachstumsziel wurde in den vergangenen beiden Jahren mit tatsächlichen BIP-Zuwächsen von jeweils 7,7 % gerade noch so erreicht. Es könnte knapp werdenIn diesem Jahr könnte es noch knapper werden, denn nach einer Belebung der chinesischen Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte 2013 stehen im laufenden Quartal die Zeichen wieder auf eine schleichende Erlahmung der Wachstumskräfte. Will Peking auf Nummer sicher gehen, dann wird Li Keqiang diesmal ein Wachstumsziel von nur noch 7 % verkünden – ein Wert, von dem man ausgehen kann, dass er auch im Falle bislang noch nicht absehbarer widriger außenwirtschaftlicher Faktoren komfortabel zu erreichen ist.Die Frage ist allerdings, ob sich die Regierung damit einen Gefallen tut. Die tiefer gelegte Latte könnte an den Märkten als eine Art Kapitulationserklärung angesehen werden, die sich negativ auf das bereits leicht angegriffene Wirtschaftsvertrauen im Reich der Mitte niederlegt. Wang Tao, die einflussreiche Chefökonomin für China der UBS, geht davon aus, dass die Regierung nicht nur an der Marke von 7,5 % festhalten wird, sondern diese auch mit ihrem weiteren wirtschaftspolitischen Kurs eisern zu verteidigen bereit ist. Damit wolle man in Peking Markterwartungen stabilisieren helfen und ein Vertrauenssignal aussenden. Negative KonsequenzenEine niedrigere offizielle Wachstumsrate wäre freilich andererseits auch ein starkes Signal, dass die Regierung bereit ist, einen tendenziell schmerzhafteren Anpassungs- und Reformkurs zu gehen, um das zu erreichen, was sie als chinesisches Wachstum ohne “negative Konsequenzen” bezeichnet. Diese verortet man neben den allseits sichtbaren Umweltproblemen auch bei wachsenden Finanzstabilitätsgefahren im Zuge überhitzter Kredit- und Immobilienmärkte, hoher Verschuldungsraten im Unternehmenssektor wie auf der Lokalregierungsebene, einer zunehmend ungleichgewichtigen Einkommensverteilung und einem gravierenden Überkapazitätsproblem in der staatlich dominierten Schwerindustrie.Mit einem gesenkten Wachstumsziel könnte sich Peking in diesem Jahr neuerliche Stimulierungsoffensiven sparen. Diese entladen sich üblicherweise auf Infrastrukturmaßnahmen und sonstige Bauprojekte bei Öffnung der Kreditschleusen und konterkarieren damit den von der Reformagenda vorgezeichneten Weg des Umbaus. Sie eignen sich aber als probates Mittel, das chinesische BIP rasch wieder in Schwung zu bringen und die Sorge um negative Konsequenzen aufs Neue zu vertagen. Bandbreite als KompromissSo oder so befindet man sich auf einer Gratwanderung, die nur sanfte Anpassungsschritte erlaubt. Denn jedwede ruckartige Beschneidung etwa auf Ebene des Kreditwachstums, der Bauaktivität und der Immobilienpreise könnte einen unkontrollierten Konjunktureinbruch beziehungsweise die seit vielen Jahren thematisierte harte Landung der chinesischen Wirtschaft nach sich ziehen. So wird bei allen harten Reformversprechen die Wahrung eines stabilen Wachstums auch in diesem Jahr das den Volkskongress prägende Mantra sein. Um Zielkonflikten aus dem Weg zu gehen, könnte man es sich in Peking freilich einfach machen und das Wachstumsziel salomonisch-unverbindlich erstmals als Bandbreite zwischen 7 und 7,5 % formulieren.