GASTBEITRAG

Christine in Wonderland oder die synthetische Drittgenerationsbilanz?

Börsen-Zeitung, 21.1.2021 Das als Worst Case befürchtete Verharren der großen Notenbanken der westlichen Welt in der Fortführung der expansiven Geldpolitik sowie die offensichtliche Hilflosigkeit und Ratlosigkeit zum Verlassen dieser Position lassen...

Christine in Wonderland oder die synthetische Drittgenerationsbilanz?

Das als Worst Case befürchtete Verharren der großen Notenbanken der westlichen Welt in der Fortführung der expansiven Geldpolitik sowie die offensichtliche Hilflosigkeit und Ratlosigkeit zum Verlassen dieser Position lassen nur Schreckensszenarien für die Ergebnisse dieser Politik befürchten. Und mittlerweile fällt einem bei den Verlautbarungen von EZB-Chefin Christine Lagarde die Welt aus Carolls Erzählung “Alice in Wonderland” ein, wo es von Paradoxen und Absurditäten nur so strotzt. Das gute Ende aus der Geschichte ist hier allerdings nicht zu erwarten. Es wird keinen Exit gebenEinen konventionellen Ausstieg aus der gegenwärtigen ultraexpansiven Geldpolitik wird es nicht geben. Es sind keine politischen Kräfte erkennbar – und in und nach der Coronakrise erst recht nicht -, welche die negativen Wirkungen dieses Ausstiegs auf die Finanzmärkte und die Konjunktur vertreten wollen. Vielmehr finden die Propheten neuer Theorien über die Wirkung der Geldpolitik immer mehr Unterstützer, wenn man zum Beispiel die Verbreitung der “Modern Monetary Theory (MMT)” in den USA betrachtet. Nun ist auch für die Eurozone die Katze aus dem Sack, wenn Riccardo Fraccaro, Berater von Italiens Ministerpräsident, fordert, “die expansive Finanzpolitik der Mitgliedstaaten in jeder möglichen Art durch die Europäische Zentralbank (EZB) zu unterstützen. Diese solle sich deshalb ernsthaft überlegen, bereits erworbene Staatsanleihen – und noch zu kaufende – zu annullieren oder zumindest ihre Laufzeit in alle Ewigkeit zu verlängern. Hat Mario Draghi am Ende wirklich das gemeint, als er für die Maßnahmen der EZB formulierte: “(… ) whatever it takes”? Geldpolitik der BeliebigkeitSo muss denn wohl mittlerweile auch Unvorstellbares zum “Ausstieg” formuliert werden. Aber war 1999 nicht auch unvorstellbar, dass die Bilanz der EZB des neu geschaffenen Eurosystems von 685 Mrd. Euro auf heute 6 800 Mrd. Euro steigen könnte, also auf fast 1 000 %?Ein Blick auf die Bilanzen der großen westlichen Notenbanken zeigt das enorme Wachstum der zur Verfügung gestellten Zentralbankgeldmenge. Offensichtlich kommt es auf den Zusammenhang zwischen der Zentralbankgeldmenge und dem geldpolitischen Ziel gar nicht mehr an – siehe die oben zitierten Worte des italienischen Politikberaters – sondern darauf, die dramatisch gestiegenen öffentlichen Haushaltsdefizite zu finanzieren, die Zinsen wegen der enormen Staatsverschuldung niedrig zu halten, jeglichen irritierenden Einfluss auf die Finanzmärkte durch beliebige Liquiditätsversorgung zu vermeiden und sich als politische Institution auf den Feldern “Green Economy” und Bekämpfung der Folgen der Coronakrise zu betätigen. Von daher erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der Wirksamkeit einer wie auch immer gewählten Geldtheorie. AusstiegsszenarioKonnten zu früheren Zeiten des Goldstandards Noten und Notenbankguthaben jederzeit in Gold umgetauscht werden, bestand damit eine Verbindlichkeit der Notenbank und die Zentralbankmenge wurde dementsprechend begrenzt. Eine solche oder eine andere Begrenzung in irgendeiner Höhe gibt es nicht mehr, so dass die Notenbanken über die Höhe der Zentralbankgeldmenge “unabhängig” entscheiden können.Der konventionelle Ausstieg aus der bisherigen Geldpolitik scheidet aus oben genannten Gründen aus und Rechtsprechung, Gesetz und Satzung und praktische Möglichkeiten bilden keine Hindernisse für folgende unkonventionelle Maßnahme: Die EZB streicht tatsächlich alle in ihrer Bilanz befindlichen Staatsanleihen, indem sie diese abschreibt. Der dadurch entstehende Verlust von mehreren Billionen Euro wird zu einem negativen Eigenkapital führen. Da die EZB aber nicht konkursfähig ist – überschuldet kann sie nicht sein und Liquidität kann sie immer selbst schaffen -, würde der private Sektor von dieser Maßnahme nicht berührt sein. Die Staatshaushalte haben ihre Verschuldung drastisch reduziert, die im Privatbesitz befindlichen Staatsanleihen behalten ihren Wert, und auch die Inhaber von Bargeld und Einlagen bei der Zentralbank sind von dieser Maßnahme nicht betroffen. Das negative Eigenkapital ist ohne Insolvenzkonsequenzen ein buchhalterischer Vorgang, gegen den die Zentralbank in den kommenden Dezennien “anverdienen” wird und den die Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis nehmen wird. Der Hinweis auf die geltenden Regeln der Rechnungslegung läuft ins Leere, da die EZB gemäß Verordnung diese selbst festlegt und sich nur an den internationalen Rechnungslegungsgrundsätzen “orientiert”.So gewinnt die für fragwürdiges Verhalten in der Buchhaltung gedachte sarkastische Bezeichnung doch noch eine reale Bedeutung. Ist damit nun das Perpetuum mobile erfunden? Sicherlich nicht, denn wie einem schon der gesunde Menschenverstand sagt, kann es das nicht geben. Unklare GefahrSo ist es denn auch hier: Durch diese Maßnahme wird die Staatsverschuldung drastisch reduziert und auch höhere Zinsausgaben der Staaten könnten bei eventuell wieder steigenden Zinsen vermieden werden. Wegen der Unberührtheit des privaten Sektors wäre wohl auch eine erneute Finanzkrise zu vermeiden. Völlig unklar bleibt aber die Gefahr aus der zeitlichen und strukturellen Wirkung einer um ein Vielfaches über die Größe der Realwirtschaft hinausgehenden Geldmenge. Dennoch hat diese Option der Geldpolitik gute Wahrscheinlichkeitswerte, dass Politiker und auch die EZB als zunehmend politische Institution an ihr Gefallen finden. Johann Rudolf Flesch, Partner Riskbalance, Beratungsgesellschaft für Banken