NOTIERT IN WIESBADEN

Citybahn: Tra(u)m für die Zukunft?

Für manchen Wiesbadener ist es ein Déjà-vu - die Straßenbahn in der eigenen Stadt. Zugegeben - für die schon ziemlich alten Wiesbadener, denn die letzte Tram wurde nach längerem, nicht zuletzt kriegsbedingten Siechtum Mitte der 1950er Jahre in der...

Citybahn: Tra(u)m für die Zukunft?

Für manchen Wiesbadener ist es ein Déjà-vu – die Straßenbahn in der eigenen Stadt. Zugegeben – für die schon ziemlich alten Wiesbadener, denn die letzte Tram wurde nach längerem, nicht zuletzt kriegsbedingten Siechtum Mitte der 1950er Jahre in der hessischen Landeshauptstadt abgeschafft. Jetzt also soll sie wieder kommen – als Citybahn. Die Bürger sollen am 1. November an der Wahlurne entscheiden. Dem geht ein jahrzehntelanger Streit über den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in der Stadt voraus. Mehrere Anläufe zur Ergänzung des ÖPNV, dessen Rückgrat bisher Busse mit Dieselmotoren sind, scheiterten. Der aktuelle, mindestens dritte Versuch zur Einführung vorerst einer Straßenbahnlinie – sie soll von Mainz über den Wiesbadener Hauptbahnhof bis zur Hochschule RheinMain führen mit Verlängerungsmöglichkeiten bis zur (dann reaktivierten) Aartalbahn nach Bad Schwalbach – ist stark umstritten.Für die Gegner ist die Straßenbahn eine Technik von gestern, zu teuer, sie behindere den Individualverkehr (also vor allem die Autos) und den Einzelhandel. Die Befürworter verweisen auf das in den Kernlinien überlastete und nicht weiter verdichtbare Busnetz, dem die großen Kapazitäten von Straßenbahnen gegenüberstehen. Nicht zuletzt ließe sich die bisher geplante einzige Linie zu einem ganzen Liniennetz ausbauen, das dann große Teile des Stadtgebietes mit einem leistungsfähigen Verkehrsmittel erschließen würde. Starke Argumente sind die Wirtschaftlichkeit und die großen Fördermöglichkeiten durch Bund und Land. Nach der Nutzen-Kosten-Untersuchung (NKU), einer bundeseinheitlichen Rechenmethode zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von Nahverkehrsprojekten, ist der finanzielle Mehrwert des Projekts Citybahn mit dem Faktor 1,5 anzusetzen. Das heißt, aus jedem in die Citybahn investierten Euro folgt ein 1,5-facher gesamtwirtschaftlicher Nutzen, zum Beispiel durch eingesparte Schadstoffe oder weniger Autos, da die Citybahn mehr Passagiere befördern kann. Ein Faktor über 1 ist Voraussetzung für die Förderfähigkeit eines Nahverkehrsprojekts. Daher würden die 149 Mill. Euro, die der erste Bauabschnitt nach bisherigen Planungen kosten soll, zu 87,5 % durch Bund und Land getragen werden. Nur die restlichen 12,5 % oder 18,6 Mill. Euro müssten von der Stadt kommen – ein starkes Argument für die Citybahn, da keine andere Maßnahme zur Stärkung des ÖPNV (wie zum Beispiel die von den Gegnern propagierten Spurbusse) so stark (oder überhaupt) gefördert wird.Die Gegner bleiben aber unbeirrbar. Sie fürchten weiter um ihre Kunden (wenn Parkplätze für die Citybahn wegfallen – zumindest direkt vor ihren Geschäften), ihre Häuser (die durch die vorbeifahrende Tram durch Lärm und Erschütterungen an Wert verlieren würden) und setzen auf Zukunftstechnologien wie das autonome Fahren, die eine Straßenbahn überflüssig machen würden.Die Diskussion über die Vor- und Nachteile der Citybahn, die gerade vor einer Abstimmung wichtig wäre, werden auch durch die Coronakrise behindert. Ob es zu großen Informationsveranstaltungen kommen wird, muss angesichts des wieder aufflammenden Infektionsgeschehens bezweifelt werden. So tobt die Meinungsschlacht im Netz, in Zeitungen, aber auch über von Grundstückseigentümern (meist Citybahngegnern) an stark frequentierten Straßen aufgehängte Plakate.Ging es bei ihnen bisher meist um (manchmal auch nur vermeintlich) sachliche Argumente, schalteten die Gegner in jüngster Zeit auf Frontalangriff – mit Polemiken (“So blöd ist Wiesbaden nicht – Am 1.11.2020 Nein zur Citybahn”) und persönlichen Vorwürfen an namentlich genannte Stadtpolitiker wie den Oberbürgermeister und den Verkehrsdezernenten.Es wird sich zeigen, ob diese “Argumente” verfangen oder im Gegenteil eher die noch Unentschlossenen veranlassen, am 1. November ein Kreuz bei “Ja” zu machen. So oder so ist zu hoffen, dass die Wiesbadener zahlreich zu den Urnen schreiten und sich dabei auch ihrer Verantwortung für die Gesamtregion bewusst sind. Denn ohne die Citybahn ist ein zukunftsfähiges Nahverkehrskonzept für das Gebiet von der Landeshauptstadt bis nach Bad Schwalbach nur schwer vorstellbar.