Corona fordert die Demokratie heraus
Von Stefan Paravicini, BerlinDie Corona-Pandemie wird im öffentlichen Diskurs auch als eine Krise der Demokratie gedeutet, die im Wettbewerb der Systeme autoritären Staaten wie China in die Karten spielt. Während die Volksrepublik gestützt auf teils drakonische Maßnahmen gegen die Pandemie zum Jahresende als einzige der G20-Volkswirtschaften ein positives Wirtschaftswachstum aufweisen dürfte, wirkt der große Gegenspieler USA trotz der Erfolge in der Entwicklung von wirksamen Impfstoffen mit mittlerweile mehr als 300 000 Coronatoten schon jetzt wie der große Verlierer der Krise.Aber auch die meisten liberalen Demokratien in der Europäischen Union (EU), die zum Jahreswechsel mitten in der zweiten oder dritten Infektionswelle stecken und vielerorts zum wiederholten Mal einen harten Lockdown verfügt haben, machen immer öfter einen überforderten Eindruck oder finden geeignete Antworten auf die Pandemie nur unter Umgehung zentraler demokratischer Institutionen.Trotz und zum Teil wegen der milliardenschweren wirtschaftlichen Hilfen droht nicht nur in Deutschland, sondern auch innerhalb der EU die soziale Ungleichheit als Folge der Pandemie zu wachsen. Das beschleunigt die in den USA schon seit längerem zu besichtigende gesellschaftliche Polarisierung und droht den Westen im Systemwettbewerb zu destabilisieren. Stimmen diese Thesen oder kann sich die Demokratie auch in der Pandemie bewähren? Systeme im WettbewerbChina kommt unter den großen Wirtschaftsblöcken wirtschaftlich mit am besten durch die Coronakrise. Das liege an der Größe des chinesischen Marktes, aber auch am entschiedenen Handeln der chinesischen Regierung während der Pandemie, sagte Siemens-Chef Joe Kaeser schon Ende Oktober bei der Asien-Pazifik-Konferenz der deutschen Wirtschaft. Das Eintreten für westliche Werte sei deshalb besonders geboten, “weil wir sehen, dass das chinesische System, was die Krisenbekämpfung angeht, westlichen Systemen überlegen war”, sagte Kaeser. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) pflichtete ihm bei. “Es ist in der Tat so, dass die Staaten und Länder, die die Coronakrise besonders konsequent bekämpft haben, auch als Erste wieder wirtschaftlich auf die Beine kommen”, sagte der Minister. “Wir müssen zeigen, dass wir die Coronakrise genauso effektiv bekämpfen können”, so Altmaier beschwörend.Die gute Nachricht mit Blick auf den Wettbewerb der Systeme lautet, dass Demokratien ihre Effektivität in der Pandemie durchaus unter Beweis gestellt haben. Im “Covid Resilience Ranking” des Datenanbieters Bloomberg lag China Ende November auf Platz 8 hinter sieben demokratisch regierten Ländern. Auf Platz 1 rangierte Neuseeland und Platz 2 nahm mit Japan die drittgrößte Volkswirtschaft ein. Deutschland belegte Platz 14, dürfte im Lichte der jüngsten Entwicklung aber weiter abrutschen. Die USA nehmen trotz ihrer verheerenden Opferzahlen Rang 18 ein, weil Bloomberg bei der Berechnung des Index auch die 18 Mrd. Dollar schweren Förderprogramme für die Suche nach einem Impfstoff im Rahmen der Operation Warp Speed honoriert. Ohne diese Aufwendungen hätte sich die Supermacht im Ranking unter 53 Staaten auf Platz 29 einsortiert. Die Mängel in der Bekämpfung der Pandemie in den USA liefern angesichts der deutlich effektiveren Antworten in anderen Demokratien allerdings keinen Beleg für die Überlegenheit von Autokratien, sondern in erster Linie einen weiteren Hinweis auf die Dysfunktionalitäten im politischen System der USA.Liberale Demokratien sehen sich in der Pandemie nicht nur vielerorts mit einer Ergebniskrise im Vergleich mit autokratischen Systemen konfrontiert, sondern geraten beim Versuch der Eindämmung der Pandemie auch immer öfter an die Grenzen ihres institutionellen Rahmens. “Das Virus ist eine demokratische Zumutung”, räumte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Blick auf die weitreichenden, staatlich verordneten Einschränkungen im Jahresverlauf gleich mehrmals ein. “Das Grundgesetz gehört in keine Risikogruppe”, versuchte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Frühjahr zu beruhigen. Doch nicht nur sogenannte Querdenker haben in den vergangenen Monaten kritisiert, dass statt des Primats der Politik plötzlich das Primat der Experten gilt, und weitreichende Eingriffe in die Freiheitsrechte ohne Abwägung von Interessen im Rahmen des politischen Streits beschlossen werden. Was Lothar Wieler, der Leiter des Robert-Koch-Instituts (RKI), oder Christian Drosten, Chef der Virologie an der Berliner Charité, empfehlen, entfaltet schneller quasibindende Wirkung für die Bürgerinnen und Bürger als Abgeordnete des Bundestages “Sieben-Tages-Inzidenzwert” sagen können, lautet sinngemäß der Vorwurf. Parlamente im AbseitsDoch ganz abgesehen davon, dass diese Experten mit ihren Einschätzungen zum Pandemieverlauf und mit ihren Empfehlungen in den meisten Fällen goldrichtig lagen, geht die Beteiligung des Parlaments an den Entscheidungsprozessen im Rahmen der Pandemiebekämpfung weiter, als von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, wie Professor Suzanne Schüttemeyer, Gründungsdirektorin des Berliner Instituts für Parlamentarismusforschung, betont. “Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass der Bundestag und auch die Landtage sich wieder stärker als die Institutionen präsentieren müssen, in denen politische Entscheidungen öffentlich diskutiert, Vor- und Nachteile von Problemlösungen erläutert und kritisch beleuchtet werden”, sagte sie Ende Mai in einem Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Wer die Bundestagsdebatten über die Krisenpolitik der Bundesregierung im Herbst verfolgt hat, wird zu dem Schluss kommen, dass dem Parlament dies nach dem Coronaschock des Frühjahrs gelungen ist. Der institutionelle Rahmen der parlamentarischen Demokratie, das lässt sich jedenfalls für die Bundesrepublik sagen, hat sich auch in der Pandemie bewährt.Liberale Demokratien stehen im Zuge der Pandemie aber noch einer dritten Herausforderung gegenüber. Denn neben dem Wettbewerb mit autoritären Systemen und der Belastungsprobe für den institutionellen Rahmen besteht die Gefahr wachsender Ungleichheit und damit verbundener Polarisierung, die die Effektivität politischer Prozesse beeinträchtigen. Die verheerende Pandemie-Bilanz der USA, wo das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes längst eine weitere Demarkationslinie in dem seit Jahrzehnten tobenden “Kulturkampf” zwischen Links und Rechts bezeichnet, ist mahnendes Beispiel dafür, wie schnell die Wirksamkeit von Regierungshandeln verpuffen kann, wenn die Gräben zwischen den politischen Lagern so tief werden, dass auch Zweifel am Gesetz der Schwerkraft politische Rendite abwerfen, solange man nur das Gegenteil dessen behauptet, was der politische Gegner sagt. Alternative für “Covidioten”Nun sind die politischen Systeme in Deutschland und in den USA kaum vergleichbar, weshalb die Auseinandersetzung zwischen Querdenkern und Geradeausdenkern im Bundestag bisher auf peinliche Machinationen der größten Oppositionspartei beschränkt blieb, die vor wenigen Wochen Corona-Leugner ins Parlament einschleuste, auf dass diese die Mitglieder anderer Fraktionen bei der Ausübung ihres freien Mandats behinderten. In der Mobilisierung der Coronaskeptiker sieht die Alternative für Deutschland (AfD) ihre einzige Chance, sich bei der Bundestagswahl im September behaupten zu können. Wer es der AfD dabei nicht zu einfach machen will, wird sich in den nächsten Monaten anders als SPD-Parteichefin Saskia Esken nicht dazu hinreißen lassen, Demonstranten gegen die Coronapolitik pauschal als “Covidioten” zu denunzieren, auch wenn die Versuchung groß sein mag.Die Pandemie führt das Immunsystem der liberalen Demokratien an seine Belastungsgrenze. Seine Stärke, gerade im Zusammenspiel mit einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung, hat es in den vergangenen Monaten aber bereits unter Beweis gestellt. Die Entwicklung von mehreren wirksamen Impfstoffen gegen das Corona-Virus innerhalb von wenigen Monaten ist ein beispielloser Triumph. China und Russland haben zwar ebenfalls Wirkstoffe entwickelt, die Daten dazu sind aber vergleichsweise intransparent. Einer der entscheidenden Vorzüge einer offenen demokratischen Gesellschaft gegenüber autokratischen Systemen bleibt auch 36 Jahre nach Tschernobyl übrigens, dass eine Katastrophe wie der Ausbruch einer Pandemie anders als in China nicht wochenlang vor der Öffentlichkeit geheim gehalten worden wäre.