Corona macht die Nachhaltigkeitslücke noch größer

Ökonom Raffelhüschen: Wir hatten noch nie eine so unsolide Finanzsituation wie heute

Corona macht die Nachhaltigkeitslücke noch größer

wf Berlin – Die Corona-Pandemie treibt die öffentlichen Haushalte in eine noch schlechtere Lage. Die Nachhaltigkeitslücke aus expliziter und impliziter Verschuldung erreicht derzeit 357,0 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder 12,3 Bill. Euro. Dies hat der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen in der sogenannten Generationenbilanz für die Stiftung Marktwirtschaft errechnet. “Wir hatten noch nie eine so unsolide Finanzsituation wie heute”, sagte Raffelhüschen, der auch Vorstandsmitglied der Stiftung ist, vor der Presse in Berlin. Beim Update der Generationenbilanz im Juli hatte die Lücke noch 354,0 % des BIP oder 11,9 Bill. Euro betragen. Der Status quo, verbunden mit einem zweiten Lockdown, weitet die Lücke auf 401,2 % des BIP oder 13,8 Bill. Euro. Dieses Szenario gilt als sehr wahrscheinlich, nachdem die zweite Infektionswelle läuft und sich die wirtschaftliche Erholung verzögert. Die Nachhaltigkeitslücke bezieht neben den expliziten oder sichtbaren Schulden auch die künftigen Verpflichtungen des Staates mit ein, die in der Haushaltsplanung noch nicht sichtbar sind. Treiber der aktuellen größeren Nachhaltigkeitslücke sind Raffelhüschen zufolge die kreditfinanzierten, höheren öffentlichen Investitionen und das zweite Familienentlastungsgesetz. Reserven schmelzenSorgen bereitet der Stiftung Marktwirtschaft auch die finanzielle Entwicklung in den Sozialversicherungen. Die Rücklagen von fast 90 Mrd. Euro werden trotz Steuerzuschüssen aus den öffentlichen Haushalten in diesem und im nächsten Jahr komplett verbraucht. “Die finanziellen Reserven der Arbeitslosenversicherung werden aufgrund des Einbruchs am Arbeitsmarkt und der explosionsartig angestiegenen Kurzarbeit sogar schon Ende dieses Jahres erschöpft sein”, stellte Raffelhüschen fest. Sollte die vereinbarte Garantie, die Sozialbeiträge nicht über 40 % des Lohns steigen zu lassen, 2021 weiter gelten, seien Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt nötig. Raffelhüschen bezeichnete dies als “Feigenblatt”, um die eigentlichen strukturellen Probleme der Sozialversicherungen zu überdecken.Die Sozialpolitik müsse stärker in Richtung Nachhaltigkeit umsteuern, damit sie weiter finanzierbar bleibe, verlangt der Ökonom. Die Quote der gesamtstaatlichen Sozialausgaben liege mittlerweile bei rund 30 % des BIP und damit auf einem Höchststand. In den 1970er und 1980er Jahren habe diese Quote noch rund ein Viertel des BIP betragen, in den 1960er Jahren rund ein Fünftel des BIP. “Wir dürfen den Menschen nicht immer mehr staatliche Leistungen versprechen, von denen niemand weiß, wie sie in einigen Jahren noch finanziert werden sollen”, warnte Raffelhüschen.Lasten würden damit in starkem Maße auf die jüngere Generation verschoben. Als Beispiel führte die Stiftung Marktwirtschaft die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angekündigte Pflegereform an, die zur einer staatlichen Vollkaskoversicherung mit begrenztem Eigenanteil führen werde. Damit werde zudem ein “Heimsog” ausgelöst: Alte Eltern gingen frühzeitiger in staatlich garantierte Pflege, um das private Vermögen zu schonen. Auch die Rentengarantie belaste künftige Generationen, da die Rentner zwar eine steigende Lohnentwicklung mitmachten, aber bei einer sinkenden Lohnentwicklung verschont blieben.