LEITARTIKEL

Countdown zum harten Brexit

Heute um Mitternacht ist es also so weit: Mit Großbritannien verlässt erstmals ein Mitgliedstaat die Europäische Union. Auf der Insel werden dann wohl einige Sektkorken knallen. Vor den europäischen Institutionen in Brüssel, Luxemburg, Straßburg und...

Countdown zum harten Brexit

Heute um Mitternacht ist es also so weit: Mit Großbritannien verlässt erstmals ein Mitgliedstaat die Europäische Union. Auf der Insel werden dann wohl einige Sektkorken knallen. Vor den europäischen Institutionen in Brüssel, Luxemburg, Straßburg und anderswo wird der Union Jack eingeholt. Und manch einer in den verbleibenden 27 EU-Staaten wird sich vielleicht denken: Schade, aber zumindest hat das unfassbare Gezerre zwischen Brüssel und London der vergangenen Monate jetzt ein Ende – endlich herrscht jetzt Klarheit. All jenen mag aber an dieser Stelle noch einmal deutlich gesagt sein: Gar nichts ist zu Ende – und gar nichts ist klar. Entschieden ist nun, gut 1 400 Tage nach dem Referendum, lediglich das Ob des Brexit, aber noch längst nicht das Wie. Denn zur Wahrheit des heutigen Tages gehört auch: Trotz Hunderter Verhandlungsrunden sind wir einem harten Brexit wohl noch nie so nahe gewesen.Die Rechnung ist ja ganz einfach: Bis zum Ende der Übergangsfrist am 31. Dezember müssen die EU und Großbritannien ihr künftiges Verhältnis klären, wozu auch der Abschluss eines umfassenden Freihandelsvertrages gehören soll. Und allen Durchhalteparolen zum Trotz: Elf Monate reichen für einen solchen Vertrag hinten und vorne nicht – und das nicht nur, weil es erstmals in der Geschichte der EU-Handelsgespräche nicht um eine Angleichung von Regeln und Standards geht, sondern im Gegenteil darum, dem potenziellen Partner bei seinen Absetzbewegungen möglichst Grenzen zu setzen. Die Übergangsperiode könnte auch noch einmal um bis zu zwei Jahre verlängert werden. Aber dies hat der britische Premier Boris Johnson ja schon kategorisch ausgeschlossen, so dass aktuell in Brüssel niemand mehr davon ausgeht, dass eine Verlängerung noch eine realistische Option ist.Natürlich, die bisherigen Brexit-Verhandlungen haben gezeigt, dass für beide Seiten gezogene rote Linien auch ganz schnell das Geschwätz von gestern sein können, und wenn es einmal darauf ankommt, dass auch schnelle Vereinbarungen zwischen Brüssel und London möglich sind. Aber es hat schon seinen Grund, dass aktuell die Industrieverbände sowohl in Großbritannien als auch auf dem Kontinent vor dem Risiko eines harten Bruchs zum Jahresende warnen. Warum Experten in London in Interviews sagen, das wahre Brexit-Chaos stehe Europa erst noch bevor. Warum sich Ökonomen wie der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, mit Aussagen wie “Jetzt wird es erst richtig kritisch” zitieren lassen. Und warum Diplomaten, die mit der Vorbereitung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte beschäftigt sind, schon heute eine “dramatische Lage” rund um den Brexit im vierten Quartal prognostizieren. Heute um Mitternacht beginnt der Countdown. Tick. Tack. In elf Monaten wartet der harte Bruch.Erst in der nächsten Woche werden sich sowohl die britische Regierung als auch die EU etwas genauer zu ihren Verhandlungslinien äußern. Laut der politischen Erklärung, auf die sich beide Seiten schon im Oktober geeinigt hatten, soll das Freihandelsabkommen eigentlich ohne Zölle und Quoten auskommen. Und zugleich gab es auch schon eine Verständigung auf ein Level Playing Field und damit auf Garantien für einen offenen und fairen Wettbewerb. Ob dies jetzt noch gilt, wird man sehen. In den EU-Hauptstädten gibt es auf jeden Fall ein gehöriges Misstrauen, dass Großbritannien sich mit dem Absenken von Standards oder Steuern Vorteile verschaffen will. Für EU-Chefunterhändler Michel Barnier dürfte damit als oberstes Prinzip gelten: Je weniger sich London künftig an die EU-Regeln hält, umso mehr muss auch der Zugang zum europäischen Binnenmarkt begrenzt werden.Einige hoffen, dass bis Jahresende zumindest noch kleine Lösungen möglich sind: einzelne sektorale Verständigungen, “Mini-Deals” sozusagen, oder zumindest ein rudimentäres Handelsabkommen, das vielleicht auch nur Teile des Warenverkehrs umfasst. Ein solcher Deal wäre sicherlich besser als nichts, könnte aber auch nur ein erster Schritt sein. Falls dies auch nicht klappt, würden die Geschäfte zwischen der EU und Großbritannien ab 2021 über die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) ablaufen, mit den entsprechenden Quoten und Tarifen. Allein auf die deutsche Wirtschaft kämen dann Zölle von jährlich mehr als 3 Mrd. Euro zu. Allen Unternehmen kann nur geraten werden, ihre Notfallmaßnahmen für einen harten Brexit weiter aufrechtzuerhalten. Für Entspannung bietet der heutige Tag keinerlei Anlass.——Von Andreas HeitkerAuch wenn sich mit dem Brexit vorerst nichts ändert: Zum Jahresende droht der harte Bruch. Die Zeit für einen Handelsvertrag reicht nicht.——