NOTIERT IN BRÜSSEL

Das belgische Virusdrama

Gestern hatte das nationale Krisenzentrum in Brüssel noch einmal positive Nachrichten: Die Neuaufnahmen von Coronapatienten in belgischen Krankenhäusern sinke weiter, hieß es auf der täglichen Pressekonferenz zur Viruskrise. In den zurückliegenden...

Das belgische Virusdrama

Gestern hatte das nationale Krisenzentrum in Brüssel noch einmal positive Nachrichten: Die Neuaufnahmen von Coronapatienten in belgischen Krankenhäusern sinke weiter, hieß es auf der täglichen Pressekonferenz zur Viruskrise. In den zurückliegenden 24 Stunden waren demnach 211 Corona-Infizierte neu in den Krankenhäusern aufgenommen worden, wo aktuell jetzt gut 4 500 stationär behandelt werden. Auch die Zahl der Coronapatienten in den Intensivstationen geht weiter zurück: Erstmals seit Ende März sank sie unter die Marke von 1 000. Also: Alles wieder gut im Königreich? Beileibe nicht. Denn innerhalb eines Tages wurden auch 230 weitere Todesfälle verzeichnet. Insgesamt beklagt das kleine Land mit seinen 11,5 Millionen Einwohnern damit schon fast 6 500 Coronatote – und damit über 1 000 mehr als im ungleich größeren Deutschland. Nimmt man die relative Sterberate, also bezogen auf die Gesamtbevölkerung, erreicht Belgien weltweit den traurigen ersten Platz, noch weit vor Italien oder Spanien. *Heimische Experten erklären dies unter anderem mit der im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ dichten Besiedelung, mit der Lage des Landes und dem Durchgangsverkehr sowie damit, dass Belgien von der Viruskrise als Ganzes betroffen sei. In Ländern wie Italien oder Spanien konzentriere sich die Pandemie eher auf lokale oder regionale Hotspots. Vor allem aber ist es wohl eine andere Zählweise der Coronatoten, die sich in den Statistiken niederschlägt. Gesundheitsministerin Maggie De Block verwies jüngst darauf, dass Belgien das einzige Land weltweit sei, in dem auch Fälle gezählt würden, die nicht im Krankenhaus, sondern beispielsweise in Alten- und Pflegeheimen festgestellt würden und bei denen schon ein nicht offiziell erwiesener Verdachtsfall ausreiche, um mitgezählt zu werden. Die belgische Premierministerin Sophie Wilmès bezeichnete diese Methode als die “größtmögliche Transparenz”. Und der Virologe Steven Van Gucht, der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beratergremiums der Regierung, behauptet, wenn all die Faktoren herausgerechnet würden, welche die anderen Länder nicht berücksichtigten, könne man die hohen belgischen Todeszahlen auch getrost durch zwei teilen. Und dann seien sie doch wieder vergleichbar mit denen in den Nachbarländern. *Die belgische Regierung, die nach anfänglichem Zögern ab Mitte März recht konsequente und strenge Maßnahmen gegen das Coronavirus unternommen hat, will sich auf jeden Fall keine Mitschuld an den desaströsen Statistiken nachsagen lassen. Umso mehr steht sie jetzt aber auch mit ihrer Exitstrategie im Blick. Das nationale Krisenzentrum geht davon aus, dass auch bei den Todesfällen der Höhepunkt schon überschritten ist. Mit Spannung wird daher auch die heutige Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates beobachtet, auf der erste Lockerungen diskutiert werden. Ministerpräsidentin Wilmès wurde in der Presse bereits damit zitiert, dass die “turmhohen Erwartungen” verständlich und legitim seien. Allerdings werde man noch nicht alle Fragen beantworten können. In der Presse vorab bekannt geworden waren allerdings schon Empfehlungen eines Expertengremiums, das mit Medizinern und Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt besetzt war. Dieses setzt sich für eine schrittweise Lockerung der Ausgangsbeschränkungen ab dem 3. Mai ein. In allen Berufen, in denen dies möglich ist, soll Homeoffice weiter verpflichtend bleiben. Schulen könnten demnach aber erst ab dem 18. Mai wieder öffnen. *Ob dies schließlich auch so umgesetzt wird, muss sich noch zeigen. Die belgische Polizei hat seit dem Lockdown innerhalb eines Monats auf jeden Fall mehr als 36 000 Strafen ausgestellt, weil die Anti-Virus-Regeln nicht befolgt wurden. Einer Online-Umfrage des Instituts für Volksgesundheit Sciensano zufolge nehmen sogar rund 20 % der Belgier Symptome einer möglichen Corona-Erkrankung nicht ernst – trotz der hohen Todesraten im Land.