Das Billionenrisiko im Hintergrund

Von Stephan Lorz, Frankfurt Börsen-Zeitung, 23.11.2017 Den Wert einer stabilen Infrastruktur lernt man in der Regel nicht im Normalbetrieb schätzen, sondern wenn es hagelt, donnert und bebt, wenn gefühlt also die Welt einzustürzen droht. Erfüllt...

Das Billionenrisiko im Hintergrund

Von Stephan Lorz, FrankfurtDen Wert einer stabilen Infrastruktur lernt man in der Regel nicht im Normalbetrieb schätzen, sondern wenn es hagelt, donnert und bebt, wenn gefühlt also die Welt einzustürzen droht. Erfüllt sie dann immer noch alle ihre Funktionen, kommt ein Stück Sicherheit zurück. Auf dieser Basis lässt sich dann aufbauen.So geschehen etwa in den Jahren der Eurokrise mit dem (damals neuen) Zahlungsverkehrssystem Target2, das nationale und grenzüberschreitende Überweisungen in Zentralbankgeld abwickelt. Damals, so schildert Christian Westerhaus, Global Head of Clearing Products, Cash Management Global Transaction Banking bei der Deutschen Bank, haben wir immer zuerst geschaut “was Target macht”. Die Teilnehmer am Target-System konnten sich dann versichern, “ob die Griechen noch mit dabei sind”. Und zwar ganz unabhängig von diversen politischen Statements und was darüber in der Öffentlichkeit kolportiert werde.Seit zehn Jahren läuft Target2 nun problemlos, weshalb die Bundesbank am Dienstagabend in einer Feierstunde auch jene Personen würdigte, die eher im Hintergrund werkeln und das System am Laufen halten. Pro Tag wickelt die Software im Schnitt immerhin rund 340 000 Zahlungen im Wert von rund 1,7 Bill. Euro ab – jeden Tag, wohlgemerkt! “Es ist das Schicksal von Infrastrukturen, dass sie in der Regel selbst nicht so prominent sind”, bedauerte Bundesbankvorstand Carl-Ludwig Thiele. Inzwischen ist die “Target-Familie” noch gewachsen: Target2-Securities für die Wertpapierabwicklung, und im November nächsten Jahres steht der Start des Target Instant Payment System (TIPS) an. Mit Letzterem können dann rund um die Uhr an jedem Tag im Jahr binnen Sekunden Zahlungen in Zentralbankgeld final verrechnet werden.Während Target2 in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung tritt, haben die Target-Salden, die aus diesem System gewonnenen Informationen über die Zahlungsverkehrsströme innerhalb des Euroraums, eine gewisse Prominenz erlangt und heiße ökonomische Debatten angefacht. In der Krise haben sich nämlich hohe Forderungen und Verbindlichkeiten einzelner nationaler Zentralbanken herausgebildet.Grund dafür sind die Nettozahlungsflüsse vorwiegend aus den Krisenländern in stabilere Regionen der Eurozone. Ökonomen warnen vor einem “Billionenrisiko” für Deutschland im Falle des Euro-Austritts eines Schuldnerlandes oder der Desintegration des ganzen Währungsraums. “Die Target-Salden sind extrem gefährlich”, sagt der frühere Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn, der als Erster auf diesen Mechanismus hingewiesen hatte. Er sieht zudem die Gefahr, dass den Krisenländern über das Target-System eine Umschuldung quasi durch die Hintertür gewährt wird – unter Umgehung der Parlamente und letztlich auch der Notenbanken, weil es sich um einen automatischen Prozess handelt.Lange Zeit hatte sich die Bundesbank auf den Standpunkt gestellt, dass es sich dabei nur um eine Verteilungsfrage von Zentralbankgeld handelt und von den Salden kein eigenständiges Risiko ausgehe – und wenn doch, dann seien alle verbleibenden Euro-Staaten betroffen. Aber auch Bundesbankpräsident Jens Weidmann baute vor und schlug EZB-Präsident Mario Draghi 2012 eine Besicherung der Forderungen vor. Bundesbankvorstand Thiele verwies am Dienstag auf den “Teilausgleich”, den es zumindest im US-Notenbankensystem gibt. Dort tauschten die Federal Reserve Districts unverzinsliche Forderungen aus dem Interbank Settlement Account gegen verzinsliche Staatsanleihen. Und mit einem bedauernden Unterton fügte er hinzu: “Einen solchen Mechanismus gibt es bei Target2 nicht.” Angesichts der Dimension der aufgelaufenen Forderungen, wofür die Bundesbank im Falle eines Ausfalls zumindest gemäß ihrem EZB-Kapitalanteil in Höhe von 26 % haften müsste, ist die Sorge nicht unberechtigt, dass sich hier ökonomische und politische Risiken wechselseitig aufschaukeln könnten. Betrugen die Nettoforderungen der Bundesbank Ende 2006 noch 5 Mrd. Euro, erreichten sie im August 2012 einen ersten Höhepunkt mit 751 Mrd. Euro. Sie schmolzen dann nach und nach wieder ab (siehe Grafik), um mit den Anleihekäufen der EZB wieder kräftig anzuschwellen auf 848 Mrd. Euro Ende Oktober. “Und da das Anleihekaufprogramm noch weiterläuft, sind noch weit höhere Salden zu erwarten”, prognostiziert Thiele.Die Debatte über die Target-Salden dürfte auch vor diesem Hintergrund wieder aufleben, zumal diese in unsicheren Zeiten schnell von einer reinen Bilanzgröße zu einem politischen Risiko werden können. Deswegen stellt sich mehr denn je die Frage, warum die EZB kein Enddatum nennt für die Anleihekäufe, welche die Haftungsrisiken im Eurosystem immer weiter auseinanderlaufen lassen. Ansonsten könnte das Vertrauen, das die stabile Target-Infrastruktur den Finanzakteuren bislang vermittelt, von politischer und ökonomischer Seite ganz schnell in Misstrauen umschlagen. ——–Zehn Jahre Target2 – von seiner technologischen Bedeutung und den damit auch bezifferbaren politischen Risiken im Euroraum.——-