EU-Politik

Das fehlende europapolitische Narrativ im Wahlkampf

In Brüssel stehen für die deutsche Wirtschaft in den nächsten Jahren wegweisende Entscheidungen an. Die neue Bundesregierung hat hierauf großen Einfluss – dennoch spielen die Themen im bisherigen Wahlkampf kaum eine Rolle.

Das fehlende europapolitische Narrativ im Wahlkampf

Von Andreas Heitker, Brüssel

Knapp zwei Stunden dauerte am vergangenen Wochenende das TV-Triell der Kanzlerkandidaten. Zahlreiche Themen wurden angesprochen, einige vertieft. Worüber überhaupt nicht gesprochen wurde, war allerdings Europa. Die EU-Politik scheint im aktuellen Bundestagswahlkampf keine große Rolle zu spielen. Das ist erstaunlich, da noch die aktuell amtierende Regierung in Berlin ihren Koalitionsvertrag mit dem Europa-Kapitel begonnen hat („Ein neuer Aufbruch für Europa“). Und es ist erstaunlich, weil in Brüssel aktuell zahlreiche Gesetzesvorhaben auf dem Tisch liegen, die auch für die deutsche (Finanz-)Wirtschaft wichtige Weichen in der Zukunft stellen – und die künftige Bundesregierung hat hier noch einiges an Einflussmöglichkeiten, wie diese Weichen gestellt werden.

Stichwort Klimapolitik: Mitte Juli hat die EU-Kommission das Paket „Fit for 55“ veröffentlicht, in dem ein Dutzend Gesetzesvorschläge gebündelt wurden, die zu einer grünen Transformation der Wirtschaft führen sollen. Alle Industriezweige sind davon betroffen, nicht nur die deutsche Automobilindustrie, die bis 2035 das Ende des Verbrennermotors meistern soll. Die Beratungen auf Seiten des EU-Parlaments und der Mitgliedstaaten beginnen bereits in den kommenden Wochen.

Stichwort Digitalisierung: Hier liegen die Vorschläge der Kommission für ein digitales Grundgesetz (Digital Markets Act/Digital Services Act) sowie für Regeln für den Finanzmarkt (u.a. Kryptoregulierung) schon seit der zweiten Jahreshälfte 2020 auf dem Tisch. Der weitere Gesetzgebungsprozess nimmt jetzt nach der Sommerpause an Fahrt auf. Die neue Bundesregierung muss sich beeilen, wenn sie hier noch eigene Akzente setzen will.

Stichwort Finanzpolitik: Die Debatte um eine Reform der Haushaltsregeln wird Ende des Jahres konkret. Und wie es in der Bankenunion weitergeht, hängt ganz von der Positionierung des neuen Finanzministers ab. Hinzu kommt die Debatte, ob der EU-Wiederaufbaufonds in eine dauerhafte Fiskalkapazität umgewandelt werden soll. Die deutschen Parteien haben hierzu ja durchaus unterschiedliche Vorstellungen (siehe Grafik).

Stichwort Handel: Was wird aus dem umstrittenen Mercosur-Deal und dem Investitionsabkommen mit China? Was mit der WTO-Reform? Und schließlich Stichwort Reformen: In der Konferenz zur Zukunft der EU werden in den kommenden Monaten viele Projekte angestoßen. Berlin wird sich hier positionieren müssen.

Die Analysten der Deutschen Bank verweisen in einer jüngst veröffentlichten Analyse zur Europapolitik darauf, dass abgesehen von der AfD alle etablierten Parteien in Deutschland die weitere europäische Integration befürworten. Die Meinungen der Parteien unterschieden sich jedoch mit Blick auf den Grad der Integration und die Übertragung von weiteren Kompetenzen an die EU, heißt es in dem Research. Die Grünen gingen am weitesten und schlügen den Übergang zu einer „Föderalen Europäischen Republik“ mit dem EU-Parlament als wichtigster demokratischer Institution vor. CDU/CSU und FDP setzten auf die Subsidiarität als Leitprinzip.

Einen gewissen Europa-Bezug haben ohnehin alle drei Kanzlerkandidaten: Armin Laschet hat als EU-Abge­ordneter in den Jahren 1999 bis 2005 bereits in Brüssel Politik gemacht. Annalena Baerbock hat ihre politische Karriere 2005 bis 2008 als Büroleiterin der damaligen grünen EU-Abgeordneten Elisabeth Schroedter begonnen. Und Olaf Scholz hat als Bundesfinanzminister in den letzten Jahren durchaus konstruktive Beiträge zur Lösung von festgefahrenen europäischen Streitthemen zumindest versucht.

Die Deutsche-Bank-Analysten er­warten zwar, dass sich das Narrativ deutscher EU-Politik auch unter der nächsten Bundesregierung nicht nachhaltig ändern dürfte. Sie verweisen aber zugleich darauf, dass die parteipolitische Zusammensetzung der künftigen Koalition trotzdem von Bedeutung sein werde – insbesondere in Bezug auf die Rolle der Grünen.

Ohnehin ist das mit dem Narrativ so eine Sache. In Brüssel wurde Deutschland in der zurückliegenden Dekade eher als Bremser denn als Visionär wahrgenommen, insbesondere in finanzpolitischen Fragen. Und Ex-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vermerkte im August in einigen bissigen Interviews, im Gegensatz zu Deutschlands nationalem Narrativ, habe Angela Merkel Europa während der Eurozonen- und der Flüchtlingskrise nicht so sehr „gerettet“, indem sie Lösungen angeboten hätte – sondern indem sie den deutschen Widerstand gegen solche Lösungen beseitigt habe, wenn auch oft nur langsam.

Wie viele europapolitische Ambitionen Merkels Nachfolger oder Nachfolgerin trotz des aktuellen Wahlkampfes zeigen wird, bleibt abzuwarten. Die Prioritäten, die die Wähler hier setzen würden, sind dagegen klar: Der Asylstreit muss ihrer Ansicht nach endlich gelöst werden, was angesichts der aktuellen Krisen an den Außengrenzen zu Belarus und rund um Afghanistan noch einmal eine neue Dringlichkeit erhalten hat. Und das Thema Rechtsstaatlichkeit und damit der EU-Konflikt mit Polen und Ungarn steht ebenfalls in einem besonderen Fokus der deutschen Wähler. Erst danach kommen einer Umfrage zufolge (siehe Grafik) Themen wie soziale Mindeststandards in Europa oder die Klimapolitik.

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