Das neue China der vielen Geschwindigkeiten

Strukturwandel bringt heftiges BIP-Gefälle - Im Rostgürtel und bei Kohle sieht es zappenduster aus

Das neue China der vielen Geschwindigkeiten

Von Norbert Hellmann, SchanghaiChinas Wirtschaftswachstum steht derzeit im Fokus – an den Finanzmärkten sind bange Prognosen über eine fortgesetzte Konjunkturabkühlung oder gar einer harten Landung der Wirtschaft an der Tagesordnung. Die Frage ist, ob der laufende Reform- und Strukturwandel im Reich der Mitte auf Kosten einer Stabilisierung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und seiner künftigen Expansionsrate geht. Kummer im NordostenDie internationale Finanzgemeinde starrt gebannter denn je auf Chinas nationale Wirtschaftsdaten. Das anziehende regionale Wachstumsgefälle, das die Staatsführung auf den Plan ruft, wir allerdings weniger beachtet. Zuletzt ging Staatspräsident Xi Jinping höchstpersönlich auf eine “Inspektionstour” im zurückhinkenden Nordosten des Landes, die den Auftakt für eine Revitalisierungskampagne in Heilonjiang, Jilin und Liaoning darstellt. Sie ist mit einem gewaltigen Investitionspaket in Höhe von 1,6 Bill. Yuan (knapp 220 Mrd. Euro) verbunden, dass sich auf 130 Infrastrukturprojekte erstreckt.In der Vergangenheit ließen sich keine sonderlich großen Unterschiede in der Dynamik einzelner Provinzen feststellen. Im modernen China aber, das gemäß den Zielmarken der Regierung auf ein “neues Normalwachstum” mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zwischen 6,5 und 7 % einschwenken soll, sehen die Dinge ein wenig anders aus. Es greift ein Strukturwandel, der den privaten Konsum und Dienstleistungen als neue Wachstumstreiber in den Vordergrund stellt, während die Schwerindustrie, der Rohstoffsektor sowie die Landwirtschaft auf dem absteigenden Ast sind und der Außenhandel eine verminderte Schubkraft aufweist. Erstmals RezessionskandidatHinter der nur moderaten Wachstumsabkühlung der vergangenen Jahre verbirgt sich mittlerweile ein China der vielen Geschwindigkeiten, wobei das Tempogefälle zunimmt. Bei den BIP-Zahlen des ersten Quartals für die 31 in die nationale Statistik eingehenden Provinzen war insbesondere Liaoning ein Hingucker (siehe Grafik). Dort sieht man eine Schrumpfung des BIP um 1,3 % und damit erstmals seit der Jahrtausendwende ein Negativwachstum in einer chinesischen Provinz. Liaoning ist so etwas wie der Inbegriff des chinesischen Rostgürtels im Dongbei genannten Nordosten des Landes. Die Schwerpunkte der Wirtschaft liegen in von Überkapazitäten geplagten Sektoren wie Schiffswerften, dem Schwermaschinenbau sowie der Rohstoffindustrie. Hier drehen sich die Räder immer langsamer, insbesondere auch in der Provinzkapitale Dalian als führendem maritimen Umschlagplatz für Eisenerz, Kohle und andere Rohstoffe. Shanxi in der BredouilleFinster sieht es auch in Chinas größtem Kohlerevier beziehungsweise der “schwarzen” Provinz Shanxi aus. Angesichts drängender Umweltverschmutzungsprobleme ist China auf einen schleichenden Wechsel der Energieträger angewiesen. Dabei verliert Steinkohle als bevorzugtes Befeuerungsmaterial für Chinas Kraftwerke sowie als Exportartikel an Anziehungskraft. Der im Frühjahr verabschiedete Fünfjahresplan verschreibt einen Überkapazitätsabbau, der allein in der Kohle- und Stahlindustrie auf die Streichung von 1,8 Millionen Arbeitsplätzen hinausläuft. Dazu gehört die Schließung von über tausend Kohlegrubenbetreibern und sektorverwandten Unternehmen.In Shanxi, das gegenwärtig mit noch 3 % Wachstum die zweitschwächste Provinz abgibt, sieht man wenig Chancen, künftig wieder zu gewohnten mittleren einstelligen Wachstumsraten zurückzufinden. Geklotzt werden darf aber in der westlichen Provinz Sichuan mit der Kapitale Chengdu und der Riesenstadt Chongqing, die als eigene Provinz seit mehreren Jahren im chinesischen Wachstumsranking mit an der Spitze steht. Hier profitiert man von noch sehr regem Infrastrukturaufbau und Bauaktivität, kostengünstigen Standortbedingungen für Unternehmen sowie exzellenten Transportanbindungen.Chinas andere Wachstumsspitzenreiter sind indes nicht als Powerhouse zu verstehen. Dass es in rückständigen Provinzen wie Tibet, Qinghai oder Gansu etwas flotter vorangeht, spielt für das nationale BIP nur eine untergeordnete Rolle. Immerhin kann man aber ein Thema erkennen, nämlich die Symbiose von Infrastrukturausbau und dienstleistungsgestützten Wachstum, das für Chinas Wirtschaftsentwicklung sinnbildlich steht. Tourismus treibt TibetPrägend für Tibet ist ein Ausbau der Transportwege via Schnellstraßen und Trassen für Hochgeschwindigkeitszüge, die einen nachgelagerten Touristikboom entfachen. Tibets gewaltige Landmasse wird nur von gut 3 Millionen Einwohnern geteilt – gerade einmal ein Achtel der Bevölkerung Schanghais. Im vergangenen Jahr aber hat man über 20 Millionen chinesische Touristen empfangen. Geplant ist eine neue Zugtrasse von Lhasa nach Chengdu, ein Projekt, welches das Wachstum in der chinesischen Hochlandprovinz über Jahre in Schwung halten dürfte. Wein, Web und WolkeAuch andere Gegenden wie das von der Ausdehnung und Bevölkerungsdichte mit Tibet vergleichbare Xinjiang wissen ihr bisweilen unwirtliches Terrain oder geografische Abschottung mit der Pflege traditionellen Brauchtums touristisch stärker nutzbar und gleichzeitig ihre landwirtschaftlichen Produkte über moderne E-Commerce-Kanäle besser an die Kundschaft in Chinas Ballungsgebieten zu bringen. Das wie Xinjiang ebenfalls muslimisch Geprägte Ningxia hat sich wiederum als das vielversprechendste chinesische Weinanbaugebiet entpuppt. Dort schießen, oft in Kooperation mit westlichen Partnern, Weinschlösser mit angegliederten Hotel- und Gastronomiebetrieben wie Pilze aus dem Boden. Auch die IT-Branche zeigt Interesse an der Region, und zwar vor allem wegen der klimatischen Bedingungen und niedrigen Grundstückspreisen, die einen kostengünstigen Betrieb von Datenspeicherzentren, Serverlagerstätten und der Infrastruktur für Cloud-Technologie erlauben. Die rasante Verbreitung cybertechnologischer Fortschritte im Reich der Mitte braucht ein immer kräftigeres Rückgrat und findet es in bislang strukturschwachen Gebieten.Selbst die von Landwirtschaft und Bergbau geprägten Provinz Guizhou, sucht und findet Anschluss an die New Economy. Die Hauptstadt Guiyang gilt als neue Big-Data-Hochburg. Die Provinzregierung sowie Staatsunternehmen in der Region ziehen fieberhaft Gemeinschaftsprojekte mit IT-Sektorgrößten wie Dell und Qualcomm für Cloud-Zentren und Halbleiterproduktion auf. Blickrichtung 2025Um Chinas wilden Westen braucht muss man sich keine allzu großen strukturpolitischen Sorgen machen. Für die Bekämpfung des Niedergangs im Nordosten muss man sich allerdings etwas einfallen lassen. Kürzlich hat der Staatsrat ein neues Aktionsprogramm zum industriellen Wandel und der technologischen Aufrüstung in Liaoning, Jilin und Heilonjiang ausgerufen.Bis 2020 soll es gelingen, auch in diesen Regionen wieder auf ein mittleres bis hohes einstelliges BIP-Wachstum zu kommen. Für die Transformation der Dongbei-Provinzen zum “Produktionszentrum für fortschrittliche industrielle Ausrüstungsgüter und einer strategischen Basis für Hochtechnologie” wird ein Zeitraum von bis zu zehn Jahren anvisiert. Länger kann man freilich nicht warten, denn schließlich geht es ja um die Aktion “Made in China 2025”.