Das raten Top-Ökonomen der EZB
Wie schätzen Sie die Inflationsaussichten im Euroraum und speziell die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale ein?
Lorenzo Bini Smaghi, Chairman Société Générale und Ex-EZB-Direktoriumsmitglied:
Anders als in den USA wird die Inflation im Euroraum weitgehend von den Energie- und Lebensmittelpreisen bestimmt, die zwar auf andere Sektoren durchschlagen könnten, aber nicht in einer spiralförmigen Weise. Die kriegsbedingte Konjunkturabschwächung dürfte die Zweitrundeneffekte auf die Löhne dämpfen. Dennoch könnte der Kaufkraftverlust für Arbeitskräfte mit geringem Einkommen in einigen Ländern zu politischen Spannungen führen, die möglicherweise einmalige Maßnahmen erfordern.
Ricardo Reis, Wirtschaftsprofessor London School of Economics:
Dieses Risiko ist höher, als mir lieb ist, aber es ist immer noch gering, weil ich glaube, dass die EZB bis zum Jahresende entschlossen handeln wird, um die Inflation wieder unter Kontrolle zu bringen. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass die Inflationserwartungen nicht mehr verankert sind, und wenn dies der Fall ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich in den Löhnen und Preisen niederschlagen. Aber es ist noch Zeit, zu handeln und die Erwartungen neu zu verankern.
Jürgen Stark, Ex-EZB-Chefvolkswirt:
Bereits im Sommer 2021 war erkennbar, dass die Preisdynamik keine kurzfristige Erscheinung und auch nicht allein von der Energiepreisentwicklung bestimmt ist. Das hat die EZB falsch eingeschätzt. Zwar wird sich die Inflationsrate in den kommenden Monaten etwas zurückbilden, aber sie dürfte weit vom 2-Prozent- Inflationsziel der EZB entfernt bleiben. Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale wird umso größer, je unentschlossener und je später die EZB handelt.
Katharina Utermöhl, Leitende Volkswirtin Allianz:
Die Preisdynamik ist in den vergangenen Monaten stetig höher und breiter ausgefallen als erwartet. Haupttreiber ist aktuell der Rohstoffpreisschock, aber die Gefahr, dass sich die hohe Inflation verfestigt, nimmt mit jedem Tag zu. Jedoch liefern Lohnentwicklung und langfristige Inflationserwartungen bisher keine einschlägigen Hinweise auf eine „Preis-Lohn“-Spirale, und angesichts großer Konjunkturrisiken ist es fraglich, ob eine in Gang kommen wird.
Athanasios Orphanides, Professor MIT Sloan School of Management und Ex-Chef der zypriotischen Zentralbank:
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine haben sich die Inflationsaussichten verschlechtert, was auf den Krieg und die unkluge Energiepolitik einiger Regierungen vor dem Krieg zurückzuführen ist. Zurzeit ist das Risiko einer Lohn- Preis-Spirale aufgrund der Glaubwürdigkeit der EZB gering. Eine geldpolitische Straffung der Politik ist jedoch notwendig, um den Auswirkungen des Krieges auf die Inflation entgegenzuwirken und die Inflationserwartungen fest bei 2 % zu verankern.
Die EZB hat für Juli die Zinswende avisiert: Wie schnell und wie stark sollte die EZB nun ihre Leitzinsen erhöhen?
Lorenzo Bini Smaghi:
Die Anhebung des Einlagensatzes auf null sollte ein erster Schritt im Juli sein, der einige der derzeitigen Verzerrungseffekte verringern würde. Dies würde einen gewissen Handlungsspielraum für die Zukunft und sogar die Möglichkeit bieten, bei Bedarf eine Zeit lang zu pausieren. Dies könnte besser sein als zwei Anhebungen um 0,25 Basispunkte. Künftig kann die EZB das Tempo ihrer Straffung auf der Grundlage der Marktreaktionen und der wirtschaftlichen Entwicklungen kalibrieren.
Ricardo Reis:
Als Erstes ist ein großer Schritt erforderlich, um die vielen Monate verlorenen Bodens und die Tatsache, dass die EZB hinter die Kurve gefallen ist, aufzuholen. Nach diesem ersten Schritt hängt es von den Daten und der Reaktion der Wirtschaft ab. Ich würde nichts ausschließen, auch nicht mehrere aufeinanderfolgende Anhebungen um 50 Basispunkte oder mehr. Die Inflation muss gesenkt werden, um die Glaubwürdigkeit der EZB und ihr Bekenntnis zum Inflationsziel wiederherzustellen und zu bekräftigen.
Jürgen Stark:
Trotz einer Inflationsrate von 8 % verharrt die EZB bisher im Anti-Deflations-Modus. Das ist unverantwortlich und hat die Glaubwürdigkeit der EZB bereits stark beschädigt, was zu höheren Inflationserwartungen führt. Die EZB sollte sofort und in größeren Schritten als avisiert die Zinsen erhöhen, sonst droht die Inflation außer Kontrolle zu geraten. Zum Jahresende sollte der Einlagenzins bei 1,25 % bis 1,5 % liegen. Weitere Schritte müssen 2023 folgen.
Katharina Utermöhl:
Die EZB sollte die Normalisierung ihrer Geldpolitik entschieden, aber dennoch schrittweise vorantreiben. Einen aggressiven U-Turn halte ich angesichts der hohen wirtschaftlichen Unsicherheit für wenig sinnvoll. Eine graduelle Kursstraffung dürfte darüber hinaus auch unerwünschte Normalisierungs-Nebenwirkungen – wie etwa das Risiko einer Marktfragmentierung – besser im Zaum halten können und somit schlussendlich einen längeren Atem haben.
Athanasios Orphanides:
Das hängt vom Krieg, seinen Folgen für die Wirtschaft und der voraussichtlichen Inflation in ein bis zwei Jahren ab. Die EZB sollte mit der Anhebung der Zinssätze um 25 Basispunkte beginnen und diese so lange wie nötig fortsetzen, um die prognostizierte Inflation in den nächsten zwei Jahren bei 2 % zu halten. Sie muss auch vermeiden, überzureagieren und eine unnötige Rezession zu verursachen. Eine Wiederholung der Fehler, die im Jahrzehnt vor der Pandemie gemacht wurden, wäre für Europa katastrophal.
Wird es ausreichen, den Leitzins auf das neutrale Niveau anzuheben, oder muss er in den restriktiven Bereich erhöht werden, um die Inflation zu senken?
Lorenzo Bini Smaghi:
Wenn die Euro-Wirtschaft immer noch unterausgelastet ist, dürfte die Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit weiter dazu beitragen, die Inflation zu senken. Dann dürfte keine Notwendigkeit für eine übermäßige Straffung der monetären Bedingungen bestehen. Derzeit gibt es keine Anzeichen für eine Überhitzung der wirtschaftlichen Bedingungen, die eine Anhebung der Zinssätze weit über das neutrale Niveau hinaus rechtfertigen würden. Übrigens, wer weiß schon, was das neutrale Niveau ist?
Ricardo Reis:
Wir werden sehen. Im Moment sind wir so weit unterhalb des neutralen Zinssatzes, dass ich gerne sehen würde, dass wir so schnell wie möglich dorthin gelangen, um dann den Zustand der Wirtschaft zu bewerten. Selbst wenn die EZB die Zinssätze in jeder der vier Sitzungen bis Ende 2022 um 50 Basispunkte anhebt, würden wir immer noch bei einem Einlagensatz von 1,5 % landen, der meiner Meinung nach unterhalb des neutralen Zinssatzes liegt.
Jürgen Stark:
Welches ist der neutrale Zins? Er kann ja nur geschätzt werden und ist deshalb nur von begrenztem Nutzen. Die EZB muss jetzt um Vertrauen kämpfen, nachdem ihre Politik zum wiederholten Mal auf einer dramatischen Fehldiagnose basiert und sie noch immer zögert, ihren Kurs grundsätzlich zu korrigieren. Tut sie das jetzt in der Erfüllung ihres Auftrags nicht überzeugend, wird sie später umso radikaler handeln müssen.
Katharina Utermöhl:
Die Normalisierungsbemühungen der EZB dürften im kommenden Jahr angesichts mauer Konjunkturaussichten, strafferer Finanzierungsbedingungen und eines wachsenden Fragmentationsrisikos zunehmenden Gegenwind bekommen. Der EZB wird es in diesem Zyklus vermutlich nicht gelingen, den neutralen Zins zu erreichen, welcher auf 1 % bis 2 % geschätzt wird. Solange Zweitrundeneffekte moderat ausfallen, dürfte das dennoch ausreichen, um die Inflation einzufangen.
Athanasios Orphanides:
In Anbetracht der Ungewissheit über die Höhe des langfristigen neutralen Zinssatzes halte ich dies nicht für eine sinnvolle Art, über Politik nachzudenken. Die Politik muss systematisch und stabilitätsorientiert sein. Sie muss angepasst werden, um die prognostizierte Inflation mittelfristig auf 2 % zu bringen und die langfristigen Inflationserwartungen zu verankern. Niemand kann heute wissen, ob der Leitzins in den nächsten zwei Jahren um weniger als 2 Prozentpunkte oder um mehr angehoben werden muss.
Die EZB will noch bis mindestens Ende 2024 fällige Anleihen aus dem Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP ersetzen. Ist das angemessen oder sollte die EZB früher beginnen, ihre Bilanz zu reduzieren?
Lorenzo Bini Smaghi:
Die EZB kann den Umfang ihrer Bilanz verringern und gleichzeitig fällig werdende Anleihen ersetzen. Sie muss nur andere Aktiva, insbesondere die TLTROs, reduzieren. Dies wird wahrscheinlich in jedem Fall geschehen, wenn der Leitzins steigt. Es ist das erste Mal seit elf Jahren, dass die Leitzinsen angehoben werden, und die Marktreaktion muss berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass die geldpolitischen Instrumente angemessen und effektiv funktionieren.
Ricardo Reis:
Ich würde mich jetzt auf die Zinssätze und die Bewältigung des Inflationsproblems konzentrieren. Während es vor der Pandemie, als die Inflationserwartungen gut verankert waren und die Inflation deutlich unter dem Zielwert lag, sinnvoll war, zuerst die Bilanz zu reduzieren und erst dann die Zinsen zu erhöhen, sehe ich jetzt keinen so triftigen Grund. Die Anhebung der Zinssätze sollte nicht aufgeschoben werden.
Jürgen Stark:
Die Begründung für PEPP ist obsolet, weshalb auch Reinvestitionen fälliger Papiere ungerechtfertigt sind. Die EZB muss aus dem seit 2014 verfolgten Krisenmodus mit Negativzinsen und Anleihekäufen heraus und gleichzeitig die Zinsen erhöhen und die Anleihekäufe einstellen. Die selbst auferlegte Sequenz, zuerst die Anleihekäufe zu reduzieren und dann die Zinsen zu erhöhen, ist sowieso unsinnig.
Katharina Utermöhl:
Der Normalisierungsprozess wird zunächst auf Zinserhöhungen fokussiert sein, doch bereits zum Jahreswechsel hin, wenn die Ära der negativen Zinsen voraussichtlich hinter uns liegt, könnte im EZB-Rat die Diskussion über ein Abschmelzen der Bilanzsumme beginnen. Wenn der Inflationsausblick für eine fortlaufende Normalisierung spricht, darf es keine Tabus geben. Dann sollte auch eine Verkürzung des PEPP-Reinvestitionszeitraums in Erwägung gezogen werden.
Athanasios Orphanides:
Wenn die EZB beginnt, die Zinssätze anzuheben, sollte sie eine Verringerung ihrer Bilanz planen. Damit sollte noch dieses Jahr begonnen werden, doch kann das auch geschehen, wenn die EZB das PEPP noch länger in seinem derzeitigen Umfang beibehält. Entscheidend ist, dass die EZB ihre Politik so umsetzt, dass in jedem Mitgliedstaat und im gesamten Euroraum angemessene Bedingungen und ein wirksamer Transmissionsmechanismus aufrechterhalten werden.
Braucht es nach dem Ende der Nettoanleihekäufe ein neues EZB-Instrument, um im Notfall als exzessiv empfundene Risikospreads zwischen Euro-Staatsanleihen zu verhindern?
Lorenzo Bini Smaghi:
Das PEPP hat in einem Umfeld niedriger Zinsen gut funktioniert. Die Marktreaktion auf eine Reihe von Zinserhöhungen könnte jedoch ganz anders ausfallen. Die Geldpolitik muss ihre Wirksamkeit sicherstellen, indem sie eine Fragmentierung vermeidet. Eine Frage, mit der man sich befassen muss, ist, wie ein neues politisches Instrument mit den anderen interagieren würde, insbesondere im Hinblick auf die anhaltende Aussetzung des Stabilitätspakts. Wer bewertet die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen?
Ricardo Reis:
Ja, es besteht ein Bedarf, aber der Teufel steckt im Detail. Es kommt darauf an, wie das Programm gestaltet ist. Es kann möglicherweise gut funktionieren, um spekulative Angriffe zu verhindern. Es kann aber auch eine Katastrophe sein, die die Märkte für Staatsschulden für immer verzerrt und schlechte Anreize für die Fiskalbehörden schafft. Es kommt wirklich auf die Ausgestaltung an.
Jürgen Stark:
Die EZB hat über viele Jahre die Märkte verzerrt und monetäre Staatsfinanzierung betrieben. Das muss ein Ende haben, auch wenn der Ausstieg aus diesem Modus schwierig ist. Es ist nicht Aufgabe der EZB, Risiken und Spreads auszugleichen. Die Risiken hoch verschuldeter Länder müssen sich in den Spreads widerspiegeln. Da die europäischen Haushaltsregeln ausgesetzt und unglaubwürdig sind, müssen von den Märkten klare Risikosignale ausgehen.
Katharina Utermöhl:
Ja. Es wäre gut, schon heute für eine akute Krisensituation vorzusorgen und ein Programm aufzusetzen, welches Interventionen am Staatsanleihenmarkt durchführen kann. Insbesondere die Falken im EZB-Turm sollten daran Gefallen finden, denn gepaart mit einer glaubwürdigen Kommunikation könnte es eine zügigere und nachhaltigere Normalisierung ermöglichen. Allerdings sollte sich die EZB davor hüten, auch in guten Zeiten die Risikoprämien kleinzuhalten.
Athanasios Orphanides:
Die Ausweitung der Spreads hat mit einem grundlegenden Fehler in den EZB- Operationen zu tun, insbesondere mit der destabilisierenden Praxis, Kreditratings zu verwenden, um zu bestimmen, ob Staatsschulden als Sicherheiten zugelassen sind. Die EZB hatte diese destabilisierende Praxis während der Pandemie ausgesetzt, beschloss aber am 24. März 2022, zum Rahmen der ewigen Fragilität vor der Pandemie zurückzukehren. Dies war ein schwerer politischer Fehler, der dringend behoben werden muss.
Die Fragen Stellte Mark Schrörs.