SPANNUNG VOR EZB-SITZUNG - IM INTERVIEW: VOLKER WIELAND

"Dauerhafte Staatsfinanzierung gehört nicht zur Rolle der EZB"

Der Wirtschaftsweise über eine Aufstockung der EZB-Anleihekäufe, mögliche Auswege nach dem Karlsruher Urteil und die Aufgaben der Euro-Notenbank

"Dauerhafte Staatsfinanzierung gehört nicht zur Rolle der EZB"

Volker Wieland gehört zu den führenden Experten in Sachen Geldpolitik und er hat bei der US-Notenbank Fed gearbeitet und die EZB beraten. Der Direktor des Frankfurter Instituts IMFS ist einer von fünf “Wirtschaftsweisen” der Bundesregierung. Im Interview spricht er über den Kurs und die Rolle der EZB. Professor Wieland, die Europäische Zentralbank (EZB) wird morgen wohl ihr Notfallanleihekaufprogramm PEPP gegen die Coronakrise kräftig aufstocken. Halten Sie das aktuell für nötig und angemessen?Ob das Volumen nötig und angemessen – also verhältnismäßig ist – kann man anhand geldpolitischer Regeln beurteilen. So würde die Taylor-Regel etwa bei einer Produktionslücke von 10 % im zweiten Quartal den angemessenen Notenbankzins um fünf Prozentpunkte reduzieren. Das kann die EZB nicht, weil solch ein Negativzins starke Ausweichreaktionen auslösen dürfte. Sie lockert stattdessen quantitativ. Wichtig wäre es aber, zu klären, was sie sich an Wirkung verspricht – etwa, welches Volumen solch einer Zinssenkung entsprechen würde. Eine weitere Frage ist, ob sie die Anleihebestände dauerhaft halten will oder eine Strategie hat, diese nach der Krise wieder abzubauen. Das bisherige Volumen von PEPP ist nicht ausgeschöpft, und derzeit scheint sich die Lage zu stabilisieren. Die EZB hat deshalb Zeit, solche wichtigen Fragen zu klären, bevor sie eine Ausweitung beschließt. Mit PEPP bewahrt die EZB gezielt einzelne Länder wie Italien vor dem finanziellen Kollaps, und die EZB hat PEPP auch schon explizit als Reaktion auf die steigenden Schuldenemissionen der Euro-Staaten in der Krise beschrieben. Ist das nicht de facto monetäre Staatsfinanzierung, die der EU-Vertrag verbietet?Die EZB spricht davon, den monetären Transmissionsmechanismus funktionsfähig zu halten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat das unter anderem als Begründung für das OMT-Programm akzeptiert. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Interpretation noch etwas engere Grenzen gezogen. Wenn PEPP etwa stark vom Kapitalschlüssel abweicht, könnte das nach Lesart des jüngsten Urteils des Bundesverfassungsgerichts als Hinweis auf monetäre Staatsfinanzierung interpretiert werden, insbesondere wenn es nicht nur temporär angelegt ist. Eine Frage wäre dann, wie lange der Bestand der Anleihen im PEPP durch Reinvestitionen der Erträge aus fälligen Anleihen erhalten wird, und unter welchen Bedingungen der Bestand reduziert wird. Das könnte zustandsbedingt definiert werden. Das heißt?Eine Strategie könnte so aussehen, dass der Bestand reduziert wird, wenn die Inflation wieder nahe dem 2-Prozent-Ziel oder darüber liegt, und wenn das Bruttoinlandsprodukt wieder nahe dem Potenzialniveau ist. Frankreichs Notenbankchef François Villeroy de Galhau hat angeregt, sich bei den PEPP-Käufen vom Kapitalschlüssel zu lösen, weil das Festhalten daran die Effektivität einschränke.Die EZB hat ja schon klargestellt, dass sie das flexibel handhabt, also über einen längeren Zeitraum vom Schlüssel abweichen könnte, um die Zinskurve in den Staatsanleihemärkten und damit die Risikoprämien auf Anleihen einzelner Mitgliedstaaten auf einem angemessenen Niveau zu halten. Sie sagt aber nicht, was da angemessen wäre. EZB-Chefökonom Philip Lane sprach bei einem Webinar des Institute for Monetary and Financial Stability unlängst davon, dass die EZB mit PEPP Volatilität der Risikoprämien in den Staatsanleihemärkten verhindern wolle, die nicht durch fundamentale Bestimmungsfaktoren gerechtfertigt seien. Für die US-Notenbank Fed, die Bank of England oder die Bank of Japan ist es nicht unüblich, dass sie in der Krise als Kreditgeber der letzten Instanz für den Staat fungieren. Sollte auch die EZB zu einem “lender of last resort” für die Euro-Staaten werden?Solange Mitgliedstaaten ihre Anleihen an den Märkten platzieren können und die EZB diese nicht eins zu eins dort aufkauft, würde ich nicht von “lender of last resort” sprechen. Diesen “lender of last resort” für Staaten gibt es aber im Euroraum. Das ist der Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, der genau dafür geschaffen wurde. Außerdem bietet der ESM Kreditlinien an, die als Vorsorge dienen sollen, damit ein Mitgliedstaat den Marktzugang nicht verliert. Hoch verschuldete Mitgliedstaaten sollten dringend einen Antrag auf solch eine Kreditlinie stellen. Die Bedingungen sind leicht zu erfüllen. Es wäre nicht sinnvoll, wenn die EZB den ESM mithilfe von PEPP ersetzt. Das will sie wohl auch nicht. Das sollte sie dann den Mitgliedstaaten aber auch klarmachen. Die Coronakrise hat zu einer neuen Debatte über das Verhältnis von Geld- und Fiskalpolitik geführt. Ist es Zeit, die Trennung zu überwinden? Ist monetäre Staatsfinanzierung am Ende gar nicht so schlimm wie gedacht?Natürlich hat die EZB eine wichtige Rolle in der Krise. Aber dauerhafte Staatsfinanzierung gehört nicht dazu. Sollte ein Mitgliedstaat überschuldet sein, kann jedenfalls nicht die EZB einspringen. Die Mitglieder des EZB-Rats sind Beamte, nicht gewählte Volksvertreter. Sie haben zwar ein großes Maß an Unabhängigkeit, aber eben nur, um ein eng begrenztes geldpolitisches Ziel zu verfolgen. In einer Währungsunion von fiskalisch weitgehend souveränen Staaten kann es nicht Aufgabe der Notenbanker sein, gezielt einzelne Staaten zu retten und zu diesem Zweck Ressourcen umzuverteilen. Das mag in einem Nationalstaat mit eigener Währung, in dem die Notenbank dem Finanzministerium untergeordnet ist, anders sein. Dort mag man eine monetäre Finanzierung etwa einem Schuldenschnitt vorziehen. Historisch hat das aber oft zu Inflation, teils zu Hyperinflation, geführt. Beim regulären Staatsanleihekaufprogramm PSPP hat das Bundesverfassungsgericht unlängst moniert, dass die EZB die Verhältnismäßigkeit nicht ausreichend nachgewiesen habe. War beziehungsweise ist PSPP verhältnismäßig?Ich habe als unabhängiger Sachverständiger in Karlsruhe dafür plädiert, dass das PSPP verhältnismäßig war. Ich hielt zwar das Volumen für zu groß beziehungsweise die Dauer des Programms für zu lange. Aber solch unterschiedliche Einschätzungen sind auch im EZB-Rat zu beobachten und fallen in den Ermessensspielraum, den man dem Rat zubilligen muss. Ich denke aber, dass der EZB-Rat schon in eigenem Interesse eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit, zu der er nach EU-Recht ganz unabhängig vom Karlsruher Urteil verpflichtet ist, regelmäßig durchführen sollte. Ein “Proportionality Check” könnte Teil der Strategie und der regelmäßigen Beschlüsse sein, ähnlich wie der “Monetary Cross-check” – also die Gegenprüfung anhand monetärer Trends. Die Unabhängigkeit wäre nicht tangiert. Wie könnte das aussehen?Eine Option wäre wie gesagt der Vergleich mit der Taylor-Regel. Die US-Notenbank Fed veröffentlicht solche Regeln und Prinzipien zur Bilanzreduzierung regelmäßig. Wenn eine Verhältnismäßigkeitsprüfung dazu führt, manche Risiken oder Nebenwirkungen in den Blick zu nehmen, ist das nicht nachteilig, sondern Teil einer angemessenen Geldpolitik – sozusagen Beipackzettel und Verschreibungspflicht. Karlsruhe hat der EZB drei Monate Zeit gegeben, die Verhältnismäßigkeit von PSPP nachzuweisen, sonst dürfe die Bundesbank nicht mehr teilnehmen. Wie lässt sich dieser Konflikt entschärfen?Karlsruhe spricht von einer EZB-Ratsentscheidung. Der Rat könnte dies ganz gesichtswahrend im Rahmen der Strategieüberprüfung tun und dabei solch einen “Proportionality Check” zum Teil der Strategie machen. Diese Überprüfung wird aber vermutlich bis nächstes Jahr laufen. Falls der EZB-Rat kein Thema der Strategieüberprüfung vorab abschließend behandeln will beziehungsweise dies nicht als gesichtswahrend erachtet, könnte folgende Option eine interessante Möglichkeit bieten: Seitens des zuständigen Ausschusses des Europaparlaments könnte eine Anfrage an die EZB zum Thema Verhältnismäßigkeit und PSPP gestellt werden. Die Koalitionsparteien in Berlin könnten über ihre EU-Abgeordneten darauf hinwirken. Dann könnte EZB-Präsidentin Christine Lagarde vor dem Europaparlament dazu Stellung nehmen und zu diesem Zweck eine Entscheidung des EZB-Rats zu einem Text herbeiführen. Falls Karlsruhe der Bundesbank tatsächlich die Teilnahme am PSPP-Programm verbieten würde – muss die Bundesbank dann gehorchen, und wäre das dann ein erster Schritt in Richtung eines Euro-Austritts Deutschlands oder eines Endes der Währungsunion?Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist von den deutschen Verfassungsorganen zu respektieren. Das gilt auch, wenn sie nicht mit dem Urteil einverstanden sind. Die Bundesbank wäre deshalb angewiesen, aus dem Programm auszusteigen. Wie es weitergeht, hängt dann von der EZB ab. Sie kann die Bundesbank natürlich anweisen, weiterhin Anleihen zu kaufen, denn die Bundesbank muss in der Frage der Geldpolitik dem EZB-Rat Folge leisten. Tut diese das nicht, kann die EZB den Konflikt eskalieren lassen und die Bundesbank vor dem EuGH verklagen. Die EU-Kommission hat bereits mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland gedroht. Die Freunde Europas sollten aber wirklich überlegen, ob diese Eskalation die beste Strategie ist, um Europa zusammenzuführen. Möglicherweise nimmt es der EuGH nächstes Mal genauer mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Und sicher ist es für die EZB aus eigenem Interesse sinnvoll, ihre Verhältnismäßigkeitsüberlegungen, die sie laut eigener Aussage ja trifft, in ihrer Politikkommunikation besser zu verankern. Die Fragen stellte Mark Schrörs.