Debatte über EZB-Strategie nimmt Fahrt auf
Erst seit Anfang November steht Christine Lagarde an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB). Aber die Debatte, wie sich die Ausrichtung der Notenbank unter ihr verändern könnte, läuft auf Hochtouren. Das gilt weniger für den kurzfristigen geldpolitischen Kurs als vielmehr für die längerfristige Strategie der EZB.Von Mark Schrörs, FrankfurtDie Debatte über die künftige Strategie der Europäischen Zentralbank (EZB) nimmt immer mehr Fahrt auf. Einerseits steht dabei das Inflationsziel der EZB von mittelfristig unter, aber nahe 2 % im Fokus – und die Frage, inwieweit das verändert oder konkretisiert werden sollte. Andererseits dreht sich die Diskussion aktuell stark um die Frage, ob und wie die EZB in ihrer Geldpolitik den Kampf gegen den Klimawandel berücksichtigen sollte – und überhaupt kann. Überprüfung steht anDie neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat bereits avisiert, gleich zu Beginn ihrer Amtszeit eine Strategieüberprüfung durchführen zu wollen. Sie folgt damit nicht zuletzt dem Vorbild der US-Notenbank Fed, die derzeit eine groß angelegte Strategieüberprüfung durchführt und Anfang 2020 Ergebnisse vorlegen will. Die EZB hatte letztmalig 2003 ihre Strategie auf den Prüfstand gestellt.Wenngleich es bei der Strategie um grundsätzliche und längerfristige Fragen gehen dürfte, haben die Überlegungen auch Einfluss auf den kurz- und mittelfristigen Ausblick für die Geldpolitik – und speziell die Frage, wie lange die EZB an der ultralockeren Geldpolitik mit Null- und Negativzinsen sowie breiten Anleihekäufen (Quantitative Easing, QE) festhält. Erst im September hatte sie ihre Geldpolitik erneut gelockert – wobei es im EZB-Rat speziell gegen die QE-Neuauflage einen beispiellosen Widerstand gegeben hatte.In der nun anstehenden Strategiedebatte steht zum einen das EZB-Inflationsziel im Mittelpunkt. Was mit mittelfristig “unter, aber nahe 2 %” genau gemeint ist, ist unklar und im EZB-Rat umstritten: Einige Notenbanker halten 1,5 % oder gar weniger für in Einklang mit dieser Definition, andere nur rund 1,9 %. Seit 1999 lag die Teuerung im Schnitt bei rund 1,7 % – wobei sie in den acht Jahren unter EZB-Präsident Mario Draghi im Mittel nur bei 1,2 % und zeitweise sogar unter der Nulllinie lag.Eine naheliegende Option wäre es wohl, das Ziel auf exakt 2 % festzuschreiben – ähnlich wie das die Fed, die Bank of Japan oder die Bank of England getan haben. Aus Sicht einiger Euro-Notenbanker würde das für mehr Klarheit sorgen und könnte bei der Stabilisierung der in der EZB als wichtig angesehenen Inflationserwartungen helfen. Zugleich gibt es aber auch einige Notenbanker, die nichts gegen weniger als 2 % Inflation einzuwenden haben oder aber zumindest nicht mit allen Mitteln versuchen wollen, diese 2 % zu erreichen – zumal in Zeiten, in denen die Globalisierung und der technologische Fortschritt preisdämpfend wirken. Dazu gehört etwa Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann.Zugleich gibt es in der EZB und der internationalen Zentralbankwelt Debatten, wie exakt ein Preisziel überhaupt definiert sein sollte. So hatte der Chefvolkswirt der Zentralbank der Zentralbanken BIZ, Claudio Borio, unlängst im Interview der Börsen-Zeitung erneut betont, dass eine Feinsteuerung der Inflation kaum möglich sei (vgl. BZ vom 22. November). Er plädierte vielmehr für mehr Flexibilität der Zentralbanken bei ihrer geldpolitischen Ausrichtung.In diese Richtung zielen nicht zuletzt auch Vorschläge für ein Inflationsband, wie es etwa die schwedische Riksbank hat. Der niederländische Zentralbankchef Klaas Knot hatte sich unlängst öffentlich für ein solches Band ausgesprochen, ohne konkrete Zahlen zu nennen. Die Commerzbank hat ein Band von plus/minus 0,5 Prozentpunkten um ein Ziel von 1,75 % vorgeschlagen. Eine Frage der SymmetrieEin großes Thema in diesem Kontext ist zugleich die Frage der Symmetrie. Ex-EZB-Präsident Draghi hat in den letzten Monaten seiner Amtszeit in der Kommunikation immer stärker darauf abgezielt, dass das Ziel symmetrisch sei und eine zu niedrige Inflation genauso entschieden bekämpft würde wie eine zu hohe Inflation. Im EZB-Rat gibt es da aber wohl noch einigen Diskussionsbedarf. So hatte nicht zuletzt Bundesbankpräsident Jens Weidmann unlängst erklärt, die bisherige Zieldefinition sei seines Erachtens nach nicht symmetrisch.Besondere Brisanz kommt dieser Frage zu, weil die Antwort als Vorbereitung für eine noch viel länger sehr expansive Politik gesehen werden könnte. Tatsächlich dürfte mancher Euro-Notenbanker der Auffassung sein, dass es nach Jahren mit Inflationsraten unterhalb des 2-Prozent-Ziels auch eine längere Phase mit Werten oberhalb von 2 % braucht. EZB-Vizepräsident Luis de Guindos hatte genau zu dieser Frage jüngst im Interview der Börsen-Zeitung gesagt, das sei “Teil der strategischen Diskussion, die wir nun führen werden” (vgl. BZ vom 13. November).Das andere große Thema ist derzeit, welche Rolle die EZB oder Zentralbanken überhaupt im Kampf gegen den Klimawandel spielen sollen. Neu-EZB-Präsidentin Lagarde hat von Anfang an klargemacht, dass sie da auch eine neue Rolle und besondere Verantwortung für die EZB sieht (vgl. z. B. BZ vom 5. September). Klimarisiken müssten zum Kern der Mission jeder Institution gehören, argumentiert sie.Rückendeckung bekam Lagarde gestern von ihrem Landsmann François Villeroy de Galhau, Gouverneur der Banque de France. Im Rahmen der Strategieüberprüfung solle auch ein Blick darauf geworfen werden, wie der Klimawandel in die geldpolitische Analyse der EZB einbezogen werden könne, sagte der Notenbankchef laut Bloomberg in Tokio.Zugleich forderten gestern 164 Wissenschaftler und Organisationen der Zivilgesellschaft in einem offenen Brief an Lagarde, dass die EZB Anleihen von Umweltverschmutzern in ihrer Bilanz abstoßen und somit aktiv einen Betrag für den Umweltschutz leisten solle. Die EZB, die im Zuge von QE auch Unternehmensanleihen erwirbt, sollte sich “dazu verpflichten, kohlenstoffintensive Vermögenswerte schrittweise aus ihren Portfolios zu streichen”. Weidmann stellt Position klarIm EZB-Rat stoßen solche Bestrebungen aber zumindest zum Teil auch auf Widerstand. So sagte etwa Bundesbankchef Weidmann jüngst, er sehe jeden Versuch, die EZB-Geldpolitik neu auszurichten, um den Klimawandel zu bekämpfen, “sehr kritisch”. Die Geldpolitik drohe mit umweltpolitischen Zielen “überfrachtet” zu werden. Diese Position untermauerte er im Grunde gestern noch einmal in einer Rede. Zugleich stellte er aber klar: Klimabedingte finanzielle Risiken könnten sich auf die QE-Käufe auswirken. Gerade bei längeren Laufzeiten könnten Klimaaspekte das Ausfallrisiko von Unternehmensanleihen beeinflussen, so Weidmann: “Sofern quantifizierbar, sollten diese Einflüsse bewertet und einbezogen werden.”Mit einer Art “grüner Geldpolitik” oder einem “grünen QE” würde die EZB in jedem Fall einen anderen Weg einschlagen als andere große Zentralbanken: Die Fed oder auch die Bank of England lehnen es bislang ab, mittels der Geldpolitik gegen den Klimawandel anzukämpfen.