Defizit treibt Haushaltswächter um

Stabilitätsrat beruft sich auf Ausnahmesituation - Beirat der Wissenschaftler warnt vor Risiken

Defizit treibt Haushaltswächter um

Die hohe Kreditaufnahme zur Stützung der Wirtschaft und für Bürger in der Corona-Pandemie treibt das staatliche Defizit in die Höhe. Der Stabilitätsrat von Bund und Ländern erwartet in diesem Jahr ein Minus von 5,5 %, sein Beirat aus Wissenschaftlern kommt auf einen deutlich höheren Wert von 8,5 %.wf Berlin – Die Finanzminister von Bund und Ländern wollen trotz hoher Neuverschuldung in der Coronakrise ihre Finanzen unter Kontrolle behalten. “Sie können sicher sein, dass wir als Finanzministerinnen und Finanzminister versuchen, auch die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte im Blick zu behalten”, sagte Doris Ahnen nach der Sitzung des Stabilitätsrats von Bund und Ländern per Video aus Mainz zugeschaltet. Die Finanzministerin von Rheinland-Pfalz ist Vorsitzende der Länderfinanzministerkonferenz.Der Stabilitätsrat stellte bei seiner Sitzung fest, dass es sich bei der Corona-Pandemie um eine Naturkatastrophe bzw. eine außergewöhnliche Notsituation handelt, die eine Ausnahme von der Schuldenbremse erlaubt. Für Hilfsmaßnahmen und Konjunkturprogramm sei eine höhere Kreditaufnahme als sonst unvermeidlich, sagte Ahnen. Der Stabilitätsrat rechnet 2020 für Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen mit einem gesamtstaatlichen Defizit von 5,5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Darin sind Ahnen zufolge noch nicht die Ausgaben für das Konjunkturprogramm enthalten. Dieses Paket wird derzeit vom Bundestag beraten und muss auch den Bundesrat passieren.Der unabhängige wissenschaftliche Beirat des Stabilitätsrats erwartet einschließlich dieser Maßnahmen ein spürbar höheres Defizit von 8,5 % des BIP. Beiratsvorsitzender Thiess Büttner, Finanzwissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg, monierte vor der Presse in Berlin, dem Stabilitätsrat sei keine konsistente Fiskalschätzung vorgelegt worden. Es fehlten Zahlen für 2021, aber auch für die mittelfristige Planung bis 2025. Der Beirat unterstützt laut Gesetz den Stabilitätsrat bei der Überwachung der Schuldenbremse. Scholz lässt Lage 2021 offenBundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) ließ offen, ob auch 2021 wieder eine Ausnahme nötig werden wird. Für genaue Schätzungen sei es noch zu früh, sagte der Minister. “Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat”, unterstrich der SPD-Politiker. Er verwies auf die außerplanmäßige Steuerschätzung, die wegen der Coronakrise im September eingeschoben wurde. Darauf soll die Etatplanung für 2021 und die mittelfristige Finanzplanung bis 2025 aufbauen, die die Bundesregierung ebenfalls in den Herbst vertagt hat. Im Mai hatten die Schätzer die Steuereinnahmen für alle Gebietskörperschaften nach unten korrigiert. Gegenüber 2019 sinken die Einnahmen um 80 Mrd. Euro auf 717,7 Mrd. Euro, gegenüber der Herbstschätzung 2019 um 100 Mrd. Euro.Die Wissenschaftler des Beirats werten die Überschreitung der Obergrenzen des staatlichen Defizits nicht als Regelverstoß in der aktuellen Lage, warnen aber deutlich vor Risiken. Der Rückgriff auf die Ausnahmeregel sei richtig, erklärte der Beirat. Zugleich wies er aber darauf hin, dass die Ausnahmeklausel kreditfinanzierte Ausgaben oder Steuersenkungen “nicht in beliebiger Höhe” zulasse. Der Staat solle nur in einer Krise konkret handlungsfähig bleiben. Art und Umfang der bislang getroffenen defizitwirksamen Maßnahmen hält der Beirat aber für vertretbar.Vermisst wird von den Wissenschaftlern ein Bekenntnis der Finanzminister, dass die Abweichung von der Defizitobergrenze wieder korrigiert wird, sobald die Ausnahmesituation überwunden ist. “Eine entsprechende Erklärung des Stabilitätsrats würde einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Sorgen über eine Destabilisierung der öffentlichen Finanzen zu zerstreuen”, erklärte der Beirat. Die Wissenschaftler dringen auf eine “gute Daten- und Informationslage”, da es künftig anspruchsvoller werde, die Einhaltung der Regeln zu überprüfen. Kritik übt der Beirat auch an den “außerordentlich langen Tilgungsfristen” für die Corona-Neuverschuldung. Der Bund hat einen Tilgungsplan über 20 Jahre, die Länder haben laut Beirat unterschiedliche Fristen bis zu 50 Jahren geplant. Die Wissenschaftler halten es auch für wichtig, wie mit dem drohenden Anstieg der Sozialbeiträge umgegangen wird. Im Konjunkturpaket sind erhebliche Mittel bereitgestellt, um diese Abgaben zu deckeln.