Deflationsgräber - der hohe Preis der EZB-Politik
Die Debatte um die Geldpolitik der EZB ist angestoßen. Der Bundesfinanzminister rief jüngst die G 20 dazu auf, die Niedrigzinspolitik wegen der zunehmend überwiegenden negativen Folgen zu hinterfragen – sichtbar sind diese Folgen bereits heute.Die EZB beharrt auf ihrem Kurs und rechtfertigt die gezielte Senkung der Zinskurve wie folgt: Insbesondere in Abwesenheit ausreichender Strukturreformen, die wohl kurzfristig nicht expansiv, sondern eher preisniveaumindernd wirkten und insofern mittelfristig kontraproduktiv wären, verbliebe nur die EZB-Politik, um eine permanente Deflation zu vermeiden. Während vormals der Zinsverfall der notenbankunabhängigen Entwicklung der Weltwirtschaft zugeschrieben wurde, bekennt sich die EZB nun zu einer Verstärkung dieses Trends – und: “If you find yourself in a hole, stop digging.” Nebelkerze DeflationOffensichtlich setzt die EZB eine stark ölpreisgetriebene Disflation mit Deflation gleich. Dies ist irreführend, denn “Deflation” stellt einen kritischeren Sachverhalt dar. Sie ist das Grab einer sich perpetuierenden Preissenkungsspirale, genährt durch Kaufzurückhaltung in Erwartung weiter fallender Preise. Doch sogar die EZB rechnet langfristig nicht mit einer negativen Inflation. Ihre Experten gehen gemessen an den Inflationseinpreisungen von einem Band zwischen einem und zwei Prozent aus. Von Kaufzurückhaltung ist man im Euroraum zumindest in den reformaktiven Ländern seit Anfang 2015 weit entfernt. Und dies ist nicht unwesentlich die Folge des niedrigen Ölpreises. Deshalb erscheint die Notwendigkeit der Deflationsabwehr als eine überzeichnende und misstrauenerweckende Nebelkerze.Zudem bergen die EZB-Maßnahmen beachtliche Risiken, die bereits sichtbar sind: Unsicherheit, Untervorsorge und Umverteilung. Zunehmende UnsicherheitDie EZB-Politik drängt besonders Investoren, die eine Mindestrendite erwirtschaften müssen, zu einer unheiligen Jagd nach Rendite. Die Folge: Die Preise risikoreicher Anlagen steigen, ihre Verzinsung fällt. Damit wächst der Zwang, in riskantere Anlagen zu investieren – ein Teufelskreis oder “Risikoaufschlagsdeflation”, in die wir uns hineingraben. Dazu die Royal Bank of Canada: “The cost of risk appears to be a concept that has escaped the market … looks like less than 30 bps between AA and BBB … We’d best pray that credit risk remains well under control.” Verstärkt wird diese systemische Stabilitätsbelastung durch die mit der EZB-induzierten Gleichrichtung des Anlageverhaltens zunehmende Assetpreis-Korrelation.Diese beteuert, dass die Regulierung diese Gefahren beherrsche. Zweifel sind erlaubt. Schon ein Politikmix aus zwei Zielrichtungen mit teilidentischen Akteuren scheint latent labil. Auch tritt die EZB hinsichtlich der problemzentralen Assetklasse “Staatsanleihen”, nicht als disziplinierender Prudenzanwalt auf: Weder setzt sie sich erfolgreich für deren risikogerechte Kapitalunterlegung ein, noch schreckt sie im Falle sogar von ihr beaufsichtigter griechischer Banken davor zurück, auch die Verdrängung collateralfähiger risikoarmer Assets per Ankauf lokaler Staatspapiere durch das Euro-System via ELAs zu finanzieren.Gelegentlich wird eingewandt, dass der Verzicht auf das risikofreies Referenzasset “Staatsanleihe” einen Grundpfeiler der Finanzarchitektur “as we know it” aufgäbe, was gerade mit Blick auf funktionierende Kapitalmärkte wie Großbritannien und die USA zurückgehalten habe, diese Idee zu verfolgen. Der Einwand springt zu kurz: Dort gibt es für den jeweiligen Währungs- und demokratisch legitimierten Haftungsraum nur eine Staatsanleihe. Genau dies ist in einer “No-Bail-out-Eurozone” mit Collective-Action-Klauseln versehenen Staatsanleihen konstruktionsbedingt anders. Auch folgt aus der Negierung der Risikofreiheit riskanterer Staatsanleihen keinesfalls, dass es nicht auch in der Eurozone für die Fiktion der Risikofreiheit hinreichend risikoarme Staatsanleihen gibt! Deren Bestimmung sowie aller Zwischenstufen bis zu High-Yield-Govies könnte neben Ratings insbesondere über das Maß der Maastrichtkonformität erfolgen, womit auch Anreize zu deren Beachtung gesetzt würden.Die Frage, inwieweit die EZB ihre rechtlichen Grenzen überstrapaziert, ist noch nicht zu Ende geurteilt. Jedenfalls stellt die Geldpolitik zumindest im Ergebnis Beihilfe zum Ignorieren der Verträge von Maastricht dar, zumal die EZB-Argumente den Verdacht nähren, dass zweckmäßige Strukturreformen auf die (jeweils?) nächsten Jahre bzw. Legislaturperioden verschoben werden. Kein Wunder, dass eine so verstandene Deficit-Spending-Politik auf zusätzliche Haftungsverbünde schielt.Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass zwei der drei größten Euroland-Volkswirtschaften seit der Euro-Einführung in mehr als drei von vier Jahren das Maastricht-Defizitziel nicht einhalten, obwohl die mit der Euro-Einführung und -Verteidigung verbundenen Zinssenkungen budgetentlastend gewirkt haben. Die zuletzt vom Bundesfinanzminister gerügte Strapazierung der Rechtstreue ist ökonomisch relevant. Der Kurzfriststabilisierung steht eine sich eingrabende Aushöhlung der Verlässlichkeit des Rechtsrahmens entgegen. Dies gilt auch, wenn man materiell eine haftungsvergemeinschaftende Deficit-Spending-Politik – allerdings nach (!) geordneter und demokratisch legitimierter Anpassung der Maastricht-Verträge – für richtig hält. Sind die Jahre seit der Euro-Einführung eine Phase der sich verstärkenden “Verlässlichkeitsdeflation”?Die EZB-Politik belastet zudem die Altersvorsorgesysteme. Dies betrifft nicht nur die auch an eigenen Versäumnissen leidenden durationsinkongruenten garantiegewährenden Bestände, sondern auch die immer schwerere Zukunftsabsicherung in Zeiten einer Realzinsdifferenz zwischen Zehnjahres-Bunds und den oben genannten Inflationseinpreisungen. Die niedrigeren Zinsen erzwingen eine immer höhere Sparquote zu Lasten des Konsums. Wer Altersarmut vermeiden will, läuft in eine “Altersvorsorgesparfalle”. Ist dies die “Altersvorsorgedeflation”, in die wir uns hineingraben? Beachtliche UmverteilungDie Nebenwirkungen der EZB-Geldpolitik gehen wie meist bei geldpolitischen Maßnahmen unterdessen weiter. Wir erleben im Euroraum insofern vielfältige Vermögensumverteilungen. Wegen der im Vergleich zur Güterpreisinflation erfolgreicheren Assetpreisinflation, kann man von einer Umverteilung zu Gunsten der nicht nur am kurzen Ende investierten “Haves” und zu Lasten der alterssparbedürftigen “Not Yet Haves” ausgehen. Eine Umverteilung zu Gunsten derer mit hohem (noch nicht durch Steuern getilgtem) Staatsschuldenanteil, welcher nunmehr marktwidrig günstig gerollt wird.Besonders beachtlich ist dies, wenn in einem fiskalischen Abrechnungsverbund die steuerlich Verschonten zugleich die “Haves” sind, also besonders hohes Vermögen besonders stark in lokale Staatsanleihen aus besonders stark verschuldeten Heimatländern investiert sind.Von den einlagestarken Finanzinstitutionen, die zwischen Negativeinlagezins und einem faktischen Nullzins im Privatkundengeschäft zerrieben werden, bis hin zu denen, die auf eine Drittfinanzierung ihrer (auch in viele lokale Staatstitel investierten) Aktivseite angewiesen sind und sogar noch vom Widerrufsjoker eines LTRO-Tausches profitieren.Teilweise wird die EZB-Politik dafür gelobt, dass sie im Interesse der Euro-Konvergenz die noch ausstehende innere Abwertungs- und Libe-ralisierungspolitik einiger Euro-Länder durch den Druck einer inneren Aufwertungspolitik weniger reformbedürftiger Länder kompensiert. Leider könnten so Chancen kompetitiver Volkswirtschaften im globalen Wettbewerb jenseits der Eurozone wegsolidarisiert werden. Erinnert sich noch jemand an die Ziele von Lissabon?Ob bewusst oder unbewusst: Die Kollateralschäden der EZB-Politik sind groß – zunehmend zu groß. Für die Mehrheit des EZB-Rates scheint es keine Alternative geben zu dürfen. Dabei liegt sie auf der Hand und wäre ganz einfach: “Stop digging!” – behutsam, aber konsequent.—-Immo Querner, Finanzvorstand der Talanx AG