„Der Baerbock-Bonus kann schnell wieder schmelzen“
Von Stefan Paravicini, Berlin
Es ist ein demoskopisches Beben, das am Dienstagabend auch den Euro-Kurs belastete: Die jüngste Erhebung der Forsa Gesellschaft für Sozialforschung sieht nach der Entscheidung der Union für Armin Laschet (CDU) als Kanzlerkandidaten plötzlich die Grünen mit der am Montag auf den Schild gehobenen Annalena Baerbock als erste Anwärter auf das Kanzleramt. In der gestern Abend veröffentlichten Umfrage zu den Wahlabsichten bei der Bundestagswahl im September machen Bündnis 90/Die Grünen einen Sprung um 5 Prozentpunkte auf 28% und verweisen die CDU, die im Vergleich zur Vorwoche um 9 Punkte auf 21% abstürzt, auf den abgeschlagenen zweiten Platz. Die SPD mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz kann von den Turbulenzen bei dem Koalitionspartner in der K-Frage nicht profitieren und verliert 2 Prozentpunkte auf 13%. Die FDP legt 2 Punkte zu und zieht mit 12% an der AfD vorbei, die sich unverändert bei 11% hält. Die Linke gewinnt einen Punkt und würde 7% der Wählerstimmen erhalten, wenn am nächsten Sonntag gewählt würde.
Ungewöhnlicher Ausschlag
„Solche Ausschläge gibt es, sie sind aber sehr selten“, erklärt Forsa-Chef Manfred Güllner. Als Vergleich zieht er etwa die Situation in der SPD von 1994 heran, als Gerhard Schröder mit Rudolf Scharping um Einfluss in der Partei rang. „Als Schröder dann die Niedersachsenwahl gewonnen hatte, ging die SPD schlagartig um 6% nach oben“, erinnert sich Güllner. Kurz darauf hätten die Wähler gemerkt, dass die SPD auf Bundesebene immer noch die Scharping-SPD sei, und der Trend in den Umfragen habe wieder in die andere Richtung gedreht. Man müsse aber gar nicht so weit zurückgehen: Nach der Europawahl 2019, als in den Medien der Klimaschutz zum wahlentscheidenden Thema erklärt wurde – nach Ansicht von Güllner übrigens eine Fehleinschätzung –, hätten die Grünen schon einmal eine ähnlich starke Aufwärtsbewegung in den Umfragen gemacht. „Da lagen die Grünen auch schon vor der CDU“, merkt der Demoskop an.
Für den Forsa-Chef steht außer Zweifel, dass die Entscheidung für Laschet als Kanzlerkandidat der CDU den demoskopische Erdrutsch ausgelöst hat. „Unsere Zahlen sind stimmig, wir haben ja auch vorher schon zu Laschet gefragt und können ein abgerundetes Bild nachzeichnen.“ Dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten mangele es selbst in Nordrhein-Westfalen an Profil. „Wir fragen nach der Zufriedenheit mit den Ministerpräsidenten in allen 16 Ländern. Laschet hat zuletzt mit Herrn Müller in Berlin um den letzten Platz konkurriert“, sagt Güllner. Vor allem das Lavieren in der Corona-Pandemie habe ihm geschadet. „Laschet ist der einzige, der in der Coronakrise im vergangenen Jahr nicht an Vertrauen gewonnen hat“, hält der Meinungsforscher nüchtern fest. Auch mit dem Vorschlag für einen „Brücken-Lockdown“ habe er nicht gepunktet. In Befragungen unter CDU-Mitgliedern hätten sich zuletzt nur rund 20% für Laschet als Kanzlerkandidaten ausgesprochen.
Die Kanzlerkandidatur von Baerbock werde mit viel Wohlwollen aufgenommen. „Man denkt jetzt natürlich auch noch nicht darüber nach, ob Baerbock Regierungserfahrung hat oder was im Wahlprogramm der Grünen steht“, sagt Güllner. „Wenn das alles erstmal zerpflückt wird, kann sich das alles wieder ändern, und der Baerbock-Bonus kann schnell wieder schmelzen.“ So sei es etwa 2017 der SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz ergangenen. Die Entscheidung für Laschet als Kanzlerkandidaten war aus Sicht des Demoskopen trotzdem ein Fehler. „Die Bindekraft von Söder bei den Wählern ist einfach größer.“