GastbeitragKonjunktur

Der Composite-EMI der Eurozone führt in die Irre

Bislang hat ein Einkaufsmanagerindex von 54 Punkten ein Wirtschaftswachstum von 0,4% angedeutet. Dieses Mal könnte es anders kommen, erwartet Jörg Angelé, Senior Economist bei Bantleon.

Der Composite-EMI der Eurozone führt in die Irre

Der Einkaufsmanagerindex führt in die Irre

Von Jörg Angelé

Im Herbst 2022 schien eine Rezession in der Eurozone angesichts explodierender Energiepreise unausweichlich. Die befürchtete Energiekrise blieb jedoch aus. Im Endeffekt schwächte sich die Konjunktur im Winterhalbjahr zwar merklich ab, zu einem Einbruch kam es aber nicht. Angesichts der seit Herbst massiv gesunkenen Energiepreise in Kombination mit den Corona-Nachholeffekten sowie der Entspannung bei den globalen Lieferketten rechnen viele Prognostiker nun mit einem Aufschwung.

Diese Zuversicht wird nicht zuletzt durch die Entwicklung des Industrie und Dienstleister zusammenfassenden Einkaufsmanagerindex (PMI) Composite gestützt – ein Indikator, der in der Vergangenheit recht zuverlässig die Entwicklung des BIP-Wachstums abbildete und der zwischen Oktober 2022 und April um 6,8 auf 54,1 Punkte zugelegt hat. In der Vergangenheit ging ein solcher Wert mit einem durchschnittlichen Zuwachs der Wirtschaftsleistung um 0,4% gegenüber dem Vorquartal einher. Wir sind allerdings der Meinung, dass es dieses Mal anders kommt.

Industrie weiter schwach

Die Verbesserung des Composite-Index geht ausschließlich auf den rasanten Anstieg des Dienstleistungs-PMI zurück. Im verarbeitenden Gewerbe hat sich die Lage dagegen nicht aufgehellt – im Gegenteil: Im Mai rutschte der Industrie-PMI auf 44,8 Punkte und damit den niedrigsten Stand seit Mai 2020 ab. Inzwischen spiegelt sich dieser Absturz auch in den realwirtschaftlichen Daten wider. So ging die Industrieproduktion in der Eurozone im März merklich zurück (–4,1% gegenüber dem Vormonat) und die deutschen Auftragseingänge brachen im März und April in Summe um 11,3% ein. In Kombination mit dem bis zuletzt rückläufigen EMI zeichnet sich damit ein Rückgang des Outputs im verarbeitenden Gewerbe der Eurozone im zweiten Quartal ab.

Partylaune im Tourismussektor

Anders als der überwiegende Teil der Prognostiker gehen wir nicht davon aus, dass der Dienstleistungssektor die Schwäche in der Industrie überkompensieren kann. Unserer Einschätzung nach geht der Höhenflug des Service-PMI nämlich nicht auf eine überbordende Nachfrage, sondern lediglich auf die teils massiven Preisanhebungen in einigen Dienstleistungsbranchen zurück. Das betrifft in erster Linie konsumnahe Bereiche wie Tourismus und Beherbergung.

Der Blick auf das von der EU-Kommission erhobene Dienstleistungsvertrauen bestätigt das. Die Nachfrageerwartungen der drei Branchen (Kreuz-)Schifffahrt, Beherbergung und Reiseveranstalter entwickeln sich seit März 2020 nahezu deckungsgleich zum Dienstleistungs-PMI.

Der starke Anstieg des PMI im Servicesektor – und damit des Composite-PMI – seit vergangenem Herbst geht offenbar weitgehend auf den Freizeitsektor zurück. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich eine derart kräftige Erholung in den entsprechenden harten Konjunkturdaten gar nicht beobachten lässt. So bewegen sich beispielsweise die Fluggast- und die Übernachtungszahlen in der Eurozone seit Sommer 2022 im Prinzip seitwärts. Der Umsatz in deutschen Hotels und Gaststätten ist seit Juni 2022 real sogar um knapp 9,0% rückläufig. Die Nachfrage nach Reisen, Freizeitaktivitäten und Hotelübernachtungen ist also gar nicht über die Maße in die Höhe geschossen. Dieser Eindruck entsteht nur, weil viele Anbieter ihre Kapazitäten während der Pandemie reduziert haben bzw. zahlreiche Anbieter infolge der Pandemie ganz vom Markt verschwunden sind.

Engpässe treiben Preise

Die derzeitige Situation bietet mithin den Anbietern das optimale Umfeld, starke Preisanhebungen durchzusetzen. Gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex für die Eurozone lagen die Preise für Pauschalreisen im April 10,7% höher als vor einem Jahr, Hotelübernachtungen verteuerten sich um 11,1% und für Flugtickets wurden 20,3% mehr fällig. Die Gegenüberstellung der Preisentwicklung für Hotelübernachtungen mit dem Dienstleistungs-PMI erhärtet unsere Vermutung. Seit Beginn der Pandemie entwickeln sich beide Datenreihen nahezu im Gleichschritt des typischen Saisonmusters der Preise für Hotelübernachtungen.

Der starke Anstieg des PMI im Dienstleistungssektor seit vergangenem Herbst – und damit des Composite-PMI – ist mithin nicht auf eine entsprechend größere Nachfrage zurückzuführen. Vielmehr scheinen sich die Unternehmen im Tourismussektor in erster Linie über stark gestiegene Umsätze infolge kräftiger Preisanhebungen zu freuen.

Das BIP wird nicht wachsen, der Composite-PMI schon bald wieder sinken. Liegen wir mit dieser Einschätzung richtig, signalisiert der Anstieg des Composite-PMI keine kräftige Konjunkturbelebung, sondern lediglich einen Preiseffekt. Man kann aus diesen Indikatoren daher nicht auf ein mehr oder weniger deutliches Plus des BIP im laufenden Quartal schließen. Stattdessen dürfte die Wirtschaftsleistung infolge eines rückläufigen Industrieausstoßes sowie einer nachlassenden Bautätigkeit sogar schrumpfen.

Trübe Perspektiven

Auch mit Blick auf das zweite Halbjahr bleiben die konjunkturellen Perspektiven eingetrübt. Die massive Straffung der Geldpolitik in der Eurozone und im Rest der Welt spricht gegen die Entfaltung eines Aufschwungs. Stattdessen dürfte die Eurozone in eine Rezession abrutschen. Wir prognostizieren daher unverändert einen leichten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im laufenden Jahr um 0,1% – der Konsensus liegt bei +0,6%. Davon abgesehen sollte der Dienstleistungs-EMI bzw. der Composite-EMI im Einklang mit dem üblichen Saisonmuster der Preise für Hotelübernachtungen in den kommenden Monaten wieder spürbar sinken.

Auch die EZB wird bald erkennen, dass der Anstieg des Composite-PMI in erster Linie auf nominalen Faktoren beruht und es sich nicht um eine reale Erholung handelt. Eine weitere Straffung der Geldpolitik ist unseres Erachtens damit nicht angezeigt. Mit jeder weiteren Zinsanhebung riskiert die EZB eine Verschärfung der Rezession und damit ein erneutes Unterschießen des eigenen Inflationsziels.

Jörg Angelé

Senior Economist bei Bantleon

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