GELDSCHÖPFUNG - GASTBEITRAG

Der ganz reale Zauber des Chicago-Plans

Börsen-Zeitung, 4.10.2012 Derzeit macht man sich größere Sorgen um das Währungs- und Finanzsystem vieler Länder und das der Welt als jemals zuvor seit der Großen Depression in den dreißiger Jahren. Angesichts der heutigen, weit größeren Anzahl von...

Der ganz reale Zauber des Chicago-Plans

Derzeit macht man sich größere Sorgen um das Währungs- und Finanzsystem vieler Länder und das der Welt als jemals zuvor seit der Großen Depression in den dreißiger Jahren. Angesichts der heutigen, weit größeren Anzahl von Wirtschaftsexperten sollte eigentlich davon auszugehen sein, dass Vorschläge zur Währungs- and Finanzreform denen aus den dreißiger Jahren weit überlegen sind. Überraschenderweise trifft aber genau das Gegenteil zu: In der heute etablierten Volkswirtschaftslehre kommt nichts auch nur ansatzweise an das intensive Verständnis des Geldwesens heran, das in den Reformvorschlägen von Frederick Soddy, Frank Knight, Henry Simons und Irving Fisher so offenkundig ist. In dem Aufsatz “The Chicago Plan Revisited” haben Jaromir Benes und ich das vor Kurzem verdeutlicht und diese Vorschläge, angepasst an die heutige US-Wirtschaft, in einer Simulation durchgespielt.Auffallend ist, dass Fisher und seine Kollegen die zentrale Rolle der Banken in der Verursachung von Konjunkturzyklen, Finanzkrisen und Überschuldung voll und ganz erfasst haben, während dieser Punkt in modernen makroökonomischen Theorien seit Jahrzehnten fast vollständig fehlt. Sogar neuere Versuche, dies zu beheben, spiegeln ein eher primitives Verständnis von Banken als Vermittler von bereits bestehenden Geldern wider und sehen Banken eben nicht in ihrer entscheidenden Rolle: als Schöpfer neuen Geldes “aus dem Nichts”.Es ist eine Tatsache, dass Banken ihre eigene Finanzierung durch Kreditvergabe schaffen – ein außergewöhnliches Privileg, das sonst kein anderer Wirtschaftszweig genießt. Es ist daher verblüffend, dass diese Tatsache samt ihren Auswirkungen anscheinend vielen modernen Studenten des Geldwesens verborgen bleibt. Genauso verblüffend ist die Tatsache, dass viele weiterhin von dem mythischen Mechanismus des Geldmultiplikators ausgehen, der immer noch einen Grundbestandteil von volkswirtschaftlichen Lehrbüchern über das Geldwesen darstellt. Demnach werden die eng gefassten Geldmengenaggregate exogen von der Zentralbank vorgegeben, woraus sich die breiter gefassten Geldmengenaggregate endogen als Ergebnis ableiten. Diese Vorstellung stellt jedoch die eigentlichen Mechanismen des Geldschöpfungsprozesses auf den Kopf und wurde in mehreren empirischen Studien widerlegt.Angesichts dieses fehlerhaften theoretischen Verständnisses ist es daher auch nicht sonderlich überraschend, dass viele der heute etablierten Analysen und Vorschläge insgesamt lediglich am bestehenden System herumschrauben, anstatt ein alternatives System zu entwerfen, in dem viele der Probleme, denen wir heute ausgesetzt sind, gar nicht mehr vorkommen könnten. Im krassen Gegensatz dazu haben die Geldreformer der dreißiger Jahre ihre Argumente ausschließlich auf der Basis von logischen verbalen Argumenten, kombiniert mit historischen Erfahrungswerten, errichtet. Dies gab ihnen die Möglichkeit, auch außerhalb ihres bestehenden Geldsystems zu denken und Alternativen dazu zu entwickeln. Verantwortung beim StaatIhr Vorschlag, der später als sogenannter Chicago-Plan und in Deutschland als Vollgeld bekannt wurde, verlangt eine Trennung von Geld und Kredit im Bankwesen. Im Bereich Geld müssen 100 % der Einlagen durch Zentralbankgeld abgedeckt werden, daneben gibt es eine strikte Geldmengenzuwachsregel, um Inflation zu kontrollieren. Daher trägt die Regierung die volle Verantwortung für die Kontrolle dieser weit gefassten Geldmenge – des Vollgeldes. Private Finanzinstitute jedoch sind weiterhin für die Kreditversorgung verantwortlich. Weil die heutige Geldschöpfung aus dem Nichts illegal wäre, könnten neue Bankkredite aber nur vergeben werden, wenn Banken ihre Gewinne zuerst in der Form von Vollgeld ansparen oder wenn sie sich zuerst Vollgeld von der Regierung oder vom Privatsektor leihen. Bei volkswirtschaftlich wichtigen Krediten, wie etwa Krediten für Investitionen, kann das System flexibler gestaltet werden, indem eine zusätzliche Regierungskreditlinie an Banken eingeführt wird.Ganz grundsätzlich sind solche monetären Maßnahmen nicht inflationär oder destabilisierend. Inflationsdruck kommt auf, wenn ein Überschuss an Bankeinlagen im Vergleich zu Waren vorhanden ist. Der Chicago-Plan lässt aber die Bankeinlagen komplett unverändert und fordert lediglich, dass diese vollständig von Zentralbankgeld und nicht von privaten Krediten abgedeckt sind. Sogar die Idee von “Deckung” ist eine unzutreffende Bezeichnung, da Geld als juristische Schöpfung (dies ist spätestens seit Aristoteles anerkannt) nicht durch irgendetwas “gedeckt” werden muss. Es stellt vielmehr Kapital im Gemeinwesen einer Nation dar und nicht Schulden einer Nation. Interessanterweise werden Münzen, die vom US Finanzministerium ausgegeben werden, im amerikanischen Rechnungswesen genauso behandelt.Wie wir in “The Chicago Plan Revisited” zeigen, belegen historische Erfahrungswerte auch die Ansicht, dass volle Regierungskontrolle über Geldschöpfung üblicherweise weder inflationär noch destabilisierend ist. Ganz im Gegenteil, denn Finanzkrisen wurden erst dann zu einem regelmäßigen Phänomen, nachdem Staaten dieses unumschränkte Recht an private Banken abgegeben hatten. Zuvor war finanzielle Stabilität die Norm.Es wäre nun ein schwerwiegender logischer Fehler, inflationäre Erfahrungen des letzten Jahrhunderts als Gegenargument hierzu heranzuziehen, denn während dieser Zeit waren Staatsregierungen und Zentralbanken nur in der Lage, die Bargeldschöpfung und die Schöpfung von Bankreserven zu kontrollieren – nur ein Bruchteil, in den meisten Fällen sogar nur ein sehr kleiner Bruchteil des gesamten Geldbestandes.Angesichts der Tatsache, dass Banken für einen sehr großen Anteil der Geldschöpfung verantwortlich waren, deuten diese Erfahrungswerte daher sogar eher darauf hin, dass das Handeln der Banken und nicht das der Staatsregierungen hauptsächlich für jene Inflationen verantwortlich war. Wie auch schon Hjalmar Schacht in “Magie des Geldes” (1967) erläutert, stimmt die deutsche Hyperinflation von 1923 mit dieser Darstellung genau überein. Stabileres SystemIrving Fisher, einer der wichtigsten Wirtschaftsexperten des 20. Jahrhunderts und eifriger Befürworter des Chicago-Plans, geht von vier großen Vorteilen aus, die allesamt von unseren Simulationen eindeutig untermauert werden. Indem Banken daran gehindert werden, ihr eigenes Geld während eines Kreditbooms zu schöpfen und dann in Krisen zu vernichten, ist erstens eine viel bessere Kontrolle der Konjunkturzyklen möglich. Zweitens würde eine vollständige Deckung durch Reserven die Möglichkeit eines destabilisierenden Bankenansturms komplett eliminieren.Drittens, wenn die Regierung Geld direkt und zinsfrei schöpfen dürfte und nicht gezwungen wäre, dieses selbe Geld erst von den Banken verzinst zu leihen, würde das zu einer dramatischen Reduzierung der Zinslast bei den Regierungsfinanzen führen. Die Nettoverschuldung der Regierungen wäre dann ebenfalls hochnegativ, da nach dem Chicago-Plan die Regierung sehr hohe verzinsliche Forderungen an die Banken hätte, wenn diese Geld leihen, um ihre Einlagen zu sichern.Viertens, wenn die Geldschöpfung nicht mehr auf gleichzeitiger Verschuldung basierte, sähe die Wirtschaft auch einen dramatischen Rückgang der privaten Schulden – in unserer Simulation ein Rückgang auf weniger als die Hälfte der bisherigen Verschuldung. Dies würde entscheidend dazu beitragen, die wirtschaftsweite finanzielle Fragilität zu reduzieren. Höheres WachstumUns sind darüber hinaus zwei weitere Vorteile aufgefallen. Zunächst einmal würde eine langfristige Steigerung des volkswirtschaftlichen Outputs von fast 10 % erreicht werden, da die Kombination von niedrigerer Verschuldung und höheren Einnahmen durch Geldschöpfung Realzinslevel, verzerrende Steuersätze und Kreditüberwachungskosten drastisch reduzieren würde.Und zweitens würden Situationen, sogenannte “liquidity traps” (Liquiditätsfallen), in denen die Geldmarktpolitik nicht mehr in der Lage ist, durch eine höhere Geldmenge oder einen niedrigeren Leitzinssatz die Wirtschaft positiv zu stimulieren, der Vergangenheit angehören. Der Grund ist, dass das Geld nun direkt von der Regierung kontrolliert wird und dass Leitzinssätze, die jetzt für Investitionskredite und nicht für Staatsschulden festgesetzt würden, auch unter null sinken könnten. Letzteres vereinfacht es auch, die Inflation auf null zu reduzieren.Unseren Simulationen zufolge gibt es daher viele große Vorteile des Chicago-Plans. Ich persönlich kann mir nur einen wesentlichen Nachteil vorstellen, nämlich dass der Übergang kompliziert und mit Risiken beladen ist. Vordenker wie Milton Friedman haben diese Bedenken nicht geteilt. Doch selbst wenn sie zutreffen sollten, haben wir doch recht klar verdeutlicht, dass in einer vollständigen Kosten-Nutzen-Analyse diese Gefahren schon extrem groß sein müssten, damit sie die Vorteile einer Umstellung auf Vollgeld zu überwiegen.—-Der Text gibt die Forschungsergebnisse des Autors wieder und ist keine offizielle Position des IWF.Bisher im Rahmen der Serie zur Geldschöpfung erschienen:- Jochen Hörisch: Geld und Geltung (17. August)- Michael North: Die Geschichte des Geldes (18. August)- Gerhard Rösl: Geld selbst geschöpft – Regionalwährung und Bitcoin (23. August)- Heiner Flassbeck: Das Geld aus der Druckmaschine und die Marktwirtschaft (28. August)- Thorsten Polleit: Die Geldschöpfung “aus dem Nichts” führt in die Krise (5. September)- Jesús Huerta de Soto und Philipp Bagus: Es geht auch ohne Geldschöpfung (14. September)- Als Nächstes geplant:- Jens Weidmann: Traf Goethe ein Kernproblem der Geldpolitik?