IM INTERVIEW: CHRISTIAN KELLER

"Der Konflikt wird weiter eskalieren"

Barclays-Chefökonom warnt vor breiter Schwellenländerkrise und Eskalation im USA-China-Handelsstreit

"Der Konflikt wird weiter eskalieren"

Der Chefökonom von Barclays, Christian Keller, warnt im Interview der Börsen-Zeitung vor einer Ausweitung der Schwellenländerkrise: “Man kann schon erkennen, dass sich die Probleme ausbreiten.” Neben der Türkei und Argentinien sei auch China in einer “prekären Situation”. Eine Mitschuld trage die aktuelle US-Handelspolitik – sie stelle das Wachstumsmodell der Schwellenländer in Frage. Den USA-China-Handelskonflikt sieht Keller weiter eskalieren. – Herr Keller, in vielen Schwellenländern verlieren die Währungen dramatisch an Wert. Wie gefährlich ist das? Steuern wir auf eine neue Schwellenländerkrise wie in den 1990er Jahren zu?Man kann schon erkennen, dass sich die Probleme ausbreiten. Wenn man in der Geschichte zurückgeht, beginnen die breiten Krisen immer mit den schwächsten Teilen und weiten sich dann aus. Das sieht man auch in diesem Fall. Die Türkei und Argentinien sind die Länder mit den größten Schwächen und den stärksten Währungsabverkäufen. Aber auch Real, Rubel, Rand, Rupie und Rupiah stehen stark unter Druck. Jedes Land hat seine länderspezifischen Schwächen.- Welche Schwächen sind das?In Argentinien hat der Staat einen großen externen Finanzierungsbedarf, in der Türkei hat der Privatsektor sich stark extern verschuldet, insbesondere die Banken. In Brasilien geht es um enorme Fiskaldefizite, in Südafrika um Reformen für Wachstum, in Russland um Sanktionen et cetera. Wenn die Krisen breiter werden, treten diese länderspezifischen Schwächen zutage. Die Gefahr einer Ausweitung ist daher gegeben, insbesondere wenn eine China-Schwäche eintritt.- Von welchem Land gehen die größten Risiken für die Weltwirtschaft aus?Argentinien und die Türkei sind recht kleine Volkswirtschaften, und selbst wenn man es auf Brasilien, Indien, Indonesien und Südafrika ausweitet, bleibt der Anteil am Weltwachstum noch recht gering. Gefährlich wird es aber, wenn die Angst vor Ansteckungseffekten dazu führt, dass es auch zu Kapitalabflüssen aus Ländern kommt, die noch relativ gesund sind. In Sachen Gefahr für das Weltwirtschaftswachstum ist China natürlich entscheidend, da von einer guten Konjunktur in China die asiatischen Schwellenländer und auch die Rohstoffexporteure in Südamerika und Afrika stark abhängen.- Wie angeschlagen ist China?China ist in einer prekären Situation. Das kreditgetriebene heimische Wachstum flaut ab, und der Exportsektor wird durch den Handelskonflikt mit den USA bedroht. Die Chinesen können zwar versuchen, die heimische Nachfrage wieder durch Fiskalpolitik und Infrastrukturinvestitionen anzukurbeln. Jedoch ist es schon das dritte oder vierte Mal, dass sie das machen, und es wird immer ineffektiver und risikoreicher.- Was würden Sie den Schwellenländern Türkei und Argentinien raten, um die Krise hinter sich zu lassen?Ich bin als ehemaliger IWF-Mitarbeiter wahrscheinlich etwas voreingenommen. Die Länder sollten schnell reagieren, eine orthodoxe Politik betreiben, die darauf abzielt, die entstandenen Ungleichgewichte abzubauen. Zum Beispiel hat die Türkei vor zwei Jahren das Kreditwachstum durch einen Kreditgarantiefonds nochmal richtig angekurbelt, als es eigentlich hätte reduziert werden müssen. Die heimische Politik ist extrem wichtig für die Schwellenländer.- Trotzdem scheinen die Schwellenländerkrisen immer nach dem gleichen Muster abzulaufen. 2013 waren wir mit “Taper Tantrum” in einer ähnlichen Situation. Warum fällt es Ländern so schwer, ihre Leistungsbilanz zu drehen und ihre Dollar-Verschuldung zu reduzieren?Es hat nach 2013 schon eine gewisse Anpassung gegeben. Zum Beispiel sind die Leistungsbilanzen in Brasilien, Indien, Indonesien und Südafrika heute viel ausgeglichener als damals – nur für Argentinien und die Türkei gilt das nicht. Gewisse Dynamiken sind jedoch immer wieder am Werk, wie die Suche nach hohen Renditen. Nach dem “Taper Tantrum” 2013 gab es die Einsicht, dass die Zinsen in den USA nur sehr langsam steigen werden. Das führte zu einem enormen “Durst” nach Renditen. Jene waren in den Schwellenländern vergleichsweise hoch. Die Schwellenländer konnten sich so leicht finanzieren, statt Schritte einzuleiten, die wehtun.- Können Sie ein Beispiel nennen?Das klassische Beispiel ist Argentinien. Das Land hat seine Außenverschuldung innerhalb von zwei Jahren enorm gesteigert. Als Argentinien an den Kapitalmarkt zurückgekehrt ist und gesagt hat, es will sich reformieren, wurden dem Land die Anleihen von den Investoren quasi aus den Händen gerissen. Danach ist die Fiskalanpassung jedoch nur noch sehr langsam vorangeschritten.- Wenn die Anleger sich so auf die Renditen stürzen, sind dann wirklich nur die Schwellenländer an ihren Krisen schuld?Natürlich kann man sich fragen, inwiefern die Geldpolitik in den Kernländern für die Probleme in den Schwellenländern mitverantwortlich ist und die Länder daher eine gewisse Verantwortung haben zu helfen. Diese Debatte gab es bereits 2013 zwischen dem damaligen indischen Zentralbank-Gouverneur Raghuram Rajan und US Fed-Chef Ben Bernanke, und auch der jetzige BIZ-Chef Agustín Carstens spricht dies an.- Wiederholt sich das “Taper Tantrum” von 2013 also gerade?Ja, in Bezug auf den plötzlichen starken Abfluss von Kapital aus den Schwellenländern. Weniger aber, was die Auslöser angeht. Im Gegensatz zu 2013 haben wir diesmal keinen Überraschungseffekt der Fed, sondern nur ganz vorsichtige, langfristig angekündigte Zinsschritte. Was neu ist, ist die US-Fiskalpolitik, allen voran die US-Handelspolitik.- Beschleunigen die USA mit ihren Sanktionen und ihrer Handelspolitik die Krise in den Schwellenländern?Definitiv. Wir sehen eine Politik der USA, die sehr darauf ausgerichtet ist, das heimische Wachstum zu stärken. Die damit verbundene, für Schwellenländer negative Tendenz zu höheren Zinsen wurde in der Vergangenheit dadurch ausgeglichen, dass die USA bei starker heimischer Nachfrage auch immer besonders viele ihrer Waren aus Schwellenländern importierten. Jetzt wird die expansive Wachstumspolitik aber kombiniert mit einer aggressiven Politik gegen bilaterale Handelsdefizite. Da man also – mit Zuhilfenahme von protektionistischen Maßnahmen – weniger importieren will, hat dies somit weniger positive Übertragungseffekte auf die Schwellenländer. Die US-Handelspolitik stellt so das Wachstumsmodell der Schwellenländer in Frage. Die Länder, die Investoren mochten, waren ja gerade diejenigen, die gut in globale Wertschöpfungsketten verzahnt waren. Man wollte, dass diese Länder viel exportieren und viele Fremdwährungen generieren.- Sind aber nicht auch Länder wie Deutschland schuld, die andauernd Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaften?Die deutsche Leistungsbilanz hat sicherlich globale Auswirkungen, ich würde das aber getrennt diskutieren. Es geht mir auch nicht darum, wer “schuld” ist. Ich stelle einfach fest, dass das Welthandelssystem der letzten 20 Jahre, das gerade für Schwellenländer wunderbar funktioniert hat, derzeit in Frage gestellt wird. Schwellenländer wurden in den globalen Markt integriert und hatten einen immer höheren globalen Exportanteil. Das gilt auch für Deutschland, das ebenfalls sehr stark in globalen Wertschöpfungsketten vernetzt ist. Die Zukunft dieses Systems, inklusive seiner multilateralen Institutionen wie der WTO, ist nun ungewiss.- Wie muss das Welthandelssystem reformiert werden, damit es nicht noch mehr in Frage gestellt wird?Im Grunde geht es ja um die Frage, ob man in einem System, das darauf beruht, dass alle wesentlichen Akteure marktwirtschaftlich agieren, ein Land wie China weiter akzeptieren kann. Als China in das WTO-System eingetreten ist, haben die westlichen Länder durch preiswerte Produkte und billige Arbeitskräfte davon profitiert. Mittlerweile ist China reicher geworden und hat offen angekündigt, eine Vormachtstellung bei der künstlichen Intelligenz und anderen Technologien einnehmen zu wollen – ohne jedoch wirklich marktwirtschaftliche und demokratische Reformen einzuführen. Es geht also darum, ob man China von seinem Wirtschafts- und Politikmodell abbringen kann.- Ist das realistisch?Da bin ich skeptisch. Der Handelskonflikt findet meines Erachtens auf zwei Ebenen statt. Da ist einmal die Ebene Nafta und EU, bei der die USA nur begrenzte Ziele erreichen wollen. Dann ist da die Ebene China – dieser Konflikt ist viel schwieriger lösbar. Wie gesagt, China hat Ambitionen, die neue Weltmacht zu werden, und das können die USA nur schwer akzeptieren. Insbesondere, wenn der Aufstieg Chinas auf Basis eines anderen Wirtschaftssystems gelingt.- Wie wird es im Handelskonflikt zwischen USA und China weitergehen?Ich sehe den Konflikt weiter eskalieren. Nach den zusätzlichen US-Zöllen, wird es für China schwer sein, nicht durch Gegenmaßnahmen zu antworten. Wie gesagt, ich halte die Situation in gewisser Weise für nicht lösbar. Es sei denn, China wäre bereit, sich an das “westliche” Wirtschaftsmodell anzupassen. Ich glaube nicht, dass China dies so einfach tun wird.- Welche Strategie sollte die EU, die Trump ja ebenfalls als “China, nur kleiner” bezeichnet, fahren?Eine zweigleisige, was die EU ja auch macht. Auf der einen Seite sollte sich die EU offen zeigen, dass sie nicht nur am bestehenden System festhalten, sondern zum Beispiel auch die WTO reformieren will. Auf der anderen Seite muss sie, wenn die Angriffe gegen die EU gehen, natürlich auch Paroli bieten und hoffen, dass diese nach den Kongresswahlen im November wieder abnehmen.- Die aktuellen Handelskonflikte sind also weniger eine vorübergehende Phase als vielmehr eine Zeitenwende?So ist es. Wir sind geschichtlich betrachtet an einem Punkt, an dem die extreme Globalisierung seit den 1990ern eine Pause macht und sich nicht einfach gleichermaßen weiterentwickelt. Das ändert das Narrativ für Schwellenländer, die sich über diesen Zeitraum extrem gut entwickelt haben.- Trotzdem schlagen Handelskonflikte und Schwellenländerkrise noch nicht auf die Konjunkturindikatoren durch. Wie können Sie sich das erklären?Der globale Handel ist das eine, das andere ist die extrem starke heimische Konjunktur. Viele der industrialisierten Kernländer haben nach wie vor ein sehr niedriges Zinsniveau und betreiben auch eine expansive Fiskalpolitik. Deutschland zum Beispiel fährt die Fiskalüberschüsse in einer Situation runter, in der die Wirtschaft über Potenzial wächst – das ist expansiv. In den USA steigt der Zins, aber die Fiskalpolitik wurde extrem gelockert. Es ist daher keine Überraschung, dass die Binnenkonjunktur sehr gut läuft. In den Kernländern wird weiter eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik betrieben, fiskalisch und geldpolitisch.- Aber hat diese aggressive Wachstumspolitik nicht auch negative Konsequenzen?Durchaus. Die Amerikaner werden ihr Fiskaldefizit in den nächsten zwei Jahren um circa zwei Prozentpunkte ausweiten, obwohl der Schuldenstand der öffentlichen Hand bereits auf einem Rekordniveau liegt. Fest steht, wenn der positive Zyklus zu Ende geht und die nächste Rezession kommt, bleibt wenig übrig, was man noch machen kann. Das Schuldenniveau ist hoch und kann nicht noch weiter ausgeweitet werden. Auch geldpolitisch ist kaum Spielraum – das ist gefährlich.- Haben die aktuellen Handelskonflikte auch Konsequenzen für die Geldpolitik der EZB? Droht etwa ein noch langsamerer Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik?Wir erwarten für die EZB ja schon einen sehr langsamen Ausstieg. Das Anleihekaufprogramm QE wird Ende dieses Jahres auslaufen, dann rechnen wir für September 2019 mit dem ersten Zinsschritt. Dass wir also für ein weiteres Jahr keinerlei Zinsschritt bekommen, ist ja schon sehr langsam. Das geldpolitische Augenmerk wird daher in den nächsten Monaten ganz klar auf der Fed liegen und ob sie bereit ist, Zinsschritte über dem, was der Markt einpreist, durchzuführen. Der Markt preist derzeit zwei Schritte dieses Jahr und ein bis zwei Zinsschritte für nächstes Jahr ein. Unsere Ökonomen erwarten dagegen vier Zinsanhebungen nächstes Jahr, basierend auf dem guten US-Wachstum. Dann müsste sich das kurze Ende der Kurve allerdings weiter anpassen, und die amerikanische Zinskurve würde sich weiter verflachen.- Rechnen Sie mit einer Invertierung der Zinskurve?Wir rechnen im Moment nur mit einer weiteren Verflachung. Es hängt natürlich nicht nur von der Geldpolitik ab, die das kurze Ende beeinflusst, sondern auch davon, was am langen Ende passiert. Da wir die Renditen der 10-jährigen US-Staatsanleihen jedoch nicht viel weiter steigen sehen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Invertierung der Kurve in der zweiten Hälfte 2019 hoch.—-Das Interview führte Julia Wacket.