Martin Frick, WFP

„Der Krieg wirkt als Brandbeschleuniger“

Der Deutschland-Chef des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen spricht über rapide steigende Hungerzahlen, Schwierigkeiten beim Transport von Lebensmitteln aus der Ukraine und Fehler in der Vergangenheit, aus denen die internationale Staatengemeinschaft bislang zu wenig gelernt hat.

„Der Krieg wirkt als Brandbeschleuniger“

Anna Steiner

Herr Frick, die Hungerkrise verschärft sich. Wie bewerten Sie die derzeitige Ausgangslage?

Wir haben im Prinzip seit Ende des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich eine Reduktion der Hungerzahlen gesehen bis 2015. Seitdem dreht sich der Trend um.

Wegen der Corona-Pandemie?

Das ist die Folge von vier Cs. Conflict: 60% des globalen Hungers geht direkt auf Konflikte zurück. Wir haben viel mehr Konflikte als vor zehn Jahren, die ungelöst sind: Südsudan, Jemen, Syrien. Dann haben wir Covid, das nicht nur viele Menschenleben gekostet hat, sondern auch Transportketten und Nachschubketten zum Abreißen gebracht hat. Und Covid hat bereits schwache Länder finanziell enorm belastet. Das dritte C sind Kosten. Viele Volkswirtschaften der Welt sind erschöpft. Wir haben einen starken Dollar und ungeheuer hohe Preise für Lebensmittel. Das bedeutet, dass diese schwachen Länder aus dem Markt gedrängt werden. Das vierte C ist Climate Change – Klimawandel. Er schlägt in einem Maße zu, wie wir uns das eigentlich erst für 2040/45 vorstellen konnten. 27 Jahre diplomatisches Blabla hat uns nicht aus dieser Klimakrise geholfen.

Und jetzt ist auch noch Krieg.

Ja, über Nacht wurden im Prinzip 12% der global gehandelten Kalorien beeinträchtigt. Russland und die Ukraine sind gewaltige Nummern im globalen Ernährungssystem. Wir sind von Weizen, Mais und Reis ähnlich abhängig wie von Öl und Gas.

Wie entstand diese Abhängigkeit?

Wir haben unsere gesamte Diät auf ganz wenige Grundnahrungsmittel verengt. Gemäß der neoliberalen Theorie wird da produziert, wo es am billigsten ist. Das hat eine enorme Pfadabhängigkeit verursacht. Und plötzlich haben wir die Nummer 5 in der globalen Getreideproduktion komplett ausgeschaltet, weil die Schwarzmeerhäfen zu sind. Und die Nummer 1 scheint politisch mit dem Hunger zu spielen.

Wie kann der Krieg in einem Land die weltweite Krise so zuspitzen?

In Friedenszeiten werden in Odessa jeden Tag 200000 Tonnen Getreide verfrachtet. Derzeit sitzen etwa 25 Mill. Tonnen Getreide in der Ukraine fest. Über den Landweg kriegt man die nur schleppend raus. Zum einen hat die Ukraine eine andere Spurweite bei der Eisenbahn als Westeuropa. Jeder Container muss mühselig umgeladen werden. Zum anderen ist der Landweg über Lastwagen hoffnungslos überfordert. Und jetzt stehen wir kurz vor der Ernte. Da werden 30 Mill. Tonnen Ge­treide ge­erntet werden, und wir wissen nicht, wohin damit. Die Lagerhäuser sind ja voll. Wenn wir die nicht leer bekommen, riskieren wir, dass das Getreide auf den Feldern verrottet.

Die Getreidepreise werden also weiter steigen.

Das tun sie ja nicht erst, seitdem Russland die Ukraine überfallen hat, sondern sie waren bereits am 24. Februar 60% höher als im Vorjahr – wegen der hohen Energie- und Transportkosten. Der Krieg wirkt jetzt als Brandbeschleuniger. Natürlich haben auch die Börsen empfindlich darauf reagiert. Viele sagen, dass da auch in großem Maße spekuliert worden ist auf hohe Getreidepreise.

Wo hakt es im globalen System?

Die Haken liegen in einer extremen Verengung dessen, was wir aktuell konsumieren. Ein Beispiel: 1904 gab es auf dem US-Markt 124 Sorten Äpfel. 2022 sind es noch sechs. Wir haben unsere Nahrungsmittelindustrie komplett standardisiert, ja, verarmt. Diese Verengung hat natürlich riesige Handelsmengen am Weltmarkt möglich gemacht. Aber es hat dazu geführt, dass sehr wenige Produzenten, nämlich nur fünf, über 80% der drei großen Getreidesorten produzieren und nur drei Länder zwei Drittel aller Vorräte halten.

Ist es realistisch, dass wir wieder mehr Vielfalt schaffen?

Gerade im Blick auf Klimawandel ist das ein Imperativ. Monokulturen sind extrem anfällig. Wir müssen im globalen Süden die kleinbäuerliche Landwirtschaft stärken. Wir müssen wieder an traditionelle Sorten ran wie Hirse oder Süßkartoffeln. Damit könnten wir auch die Importabhängigkeit dieser Länder verringern. Mittel- und langfristig müssen wir strukturell an die Ernährungssysteme ran und vor allem uns auch die Nachfrage anschauen.

Was genau meinen Sie?

In Deutschland werden 60% der Getreideproduktion nicht zu Pasta oder Brot, sondern zu Viehfutter und 16% zu Biosprit. In den USA wandern fast 50% der Weizenproduktion in die Herstellung von Bioethanol. Zudem haben wir in reichen Ländern eine Lebensmittelverschwendung von 36%. Und in den Entwicklungsländern sehen wir Nach-Ernte-Verluste. Da mangelt es an Kühlketten, an Lebensmittelverarbeitung. Das ist ein gewaltiges Klimaproblem, weil verrottende Lebensmittel Methan freisetzen. Wäre Lebensmittelverschwendung ein Land, wäre es der drittgrößte Emittent von Treibhausgasemissionen.

In Berlin findet am Freitag ein Ernährungsgipfel statt. Was erhoffen Sie sich davon?

Das finde ich eine fantastische Initiative. Zum einen, weil die Bundesregierung an einem Strang zieht. Damit zeigt Deutschland, dass es die Zeichen der Zeit verstanden hat. Auch geopolitisch wird hier ein Signal gesetzt gegenüber den Ländern des globalen Südens, dass man sie über die Ukraine nicht vergessen hat, sondern dass man sich im G7-Rahmen gemeinsam dafür einsetzt, dass dieser Ernährungskrise die Spitze genommen wird.

Die Fragen stellte .

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