NOTIERT IN BRÜSSEL

Der lange Weg nach Anvers

Für Tramper - also Menschen, die per Autostopp reisen - ist Belgien ein denkbar kompliziertes Pflaster. Das liegt natürlich, wie so vieles in diesem Lande, an der Mehrsprachigkeit. Neulich hielt ich an der Autobahnauffahrt, um einen Tramper...

Der lange Weg nach Anvers

Für Tramper – also Menschen, die per Autostopp reisen – ist Belgien ein denkbar kompliziertes Pflaster. Das liegt natürlich, wie so vieles in diesem Lande, an der Mehrsprachigkeit. Neulich hielt ich an der Autobahnauffahrt, um einen Tramper mitzunehmen. Der junge Mann öffnete die Tür und rasselte einen ganzen Vortrag herunter: “Bonjour, est-ce que vous roulez a Aix-la-Chapelle, s’il vous plait? Goeden Dag, rijden U naar Aken, alsublieft? Hello, are you going to Aachen, please?” Danach musste er erst einmal schnappatmen, was mir die Chance gab, dem armen Tropf zu antworten: “Ja sicher, ich fahre nach Aachen.”Die Sache ist vertrackt. Weil Sie ja eigentlich nicht ahnen können, ob Ihr Gegenüber lieber Flämisch oder Französisch spricht – oder gar ein Internationaler ist und nur Englisch kann, bleibt Ihnen nicht viel übrig, als Gespräche mehrsprachig zu eröffnen. Erfahrene Belgier machen das, indem sie die Sätze mischen, um ihren Gesprächspartner nicht unnötig zu langweilen. Etwa im Kino, wo Sie der Platzanweiser wahlweise mit “Bonsoir, zaal negen, have fun” oder eben mit “Goeden avond, cinema nine, excellente soirée” begrüßt.Wer die eigene Simultanübersetzung für überflüssig hält, geht das Risiko ein, dass er dann andere verprellt. So etwa wie jener unbedarfte Amerikaner, der von Amsterdam nach Paris reisen wollte und sich an der niederländisch-belgischen Grenze mit einem Schild um eine Mitfahrgelegenheit bewarb, auf dem “Anvers” stand. Das ist der französische Name für Antwerpen – eine ziemlich böse Provokation für jeden Flamen. Die Legende besagt, dass der Amerikaner noch immer dort auf ein Auto wartet. *Wenn Unternehmen leitende Angestellte nach Indien oder China entsenden, dann spendieren sie ihnen regelmäßig einen Kurs, um die kulturellen Eigenheiten kennenzulernen. Dort lernen die Manager dann, dass Kopfschütteln nicht unbedingt nein heißt oder dass man nicht jedem trauen sollte, der einem den Weg erklärt. Ich habe allerdings noch nie gehört, dass eine Führungskraft, die nach Belgien entsandt wurde, zugleich über die Sonderbarkeiten des Landes und seiner zwei großen Stämme aufgeklärt wurde. Dabei täte das durchaus not, schließlich gibt es allerlei Herausforderungen, die der Neuankömmling im täglichen Geschäftsverkehr meistern muss.Etwa dass er in Geschäften als Erstes den Automat suchen sollte, an dem er eine laufende Nummer ziehen kann, – sonst kann es ihm passieren, dass er nicht bedient wird, selbst wenn kein anderer Kunde im Laden ist. Oder auch: dass die Preise von Gütern des täglichen Bedarfs ungewöhnlich schwanken. Ich zum Beispiel kaufe morgens die immer gleiche Tageszeitung, zahle dafür aber abwechselnd 2,70, 2,80 und manchmal auch 2,90 Euro – beim gleichen Kiosk, sogar beim gleichen Verkäufer. Und bei der Post kostet der Standardbrief nach Deutschland je nach Wochentag 1 Euro, 1,06 Euro oder deutlich mehr. Wenn man nachfragt, verweist der Beamte nur auf eine angeblich bevorzugte Beförderung: priorité! Was freilich wenig daran ändert, dass die Sendung nach Frankfurt durchaus auch mal vier Tage dauern kann. *Was den Neuankömmling in Brüssel freilich am meisten überraschen und irritieren dürfte, ist die Zeitverschiebung. In Belgien gehen die Uhren langsamer. Im Straßenbild gibt es wenig hetzende, eilende, rasende Zeitgenossen. Das Tempo auf dem Bürgersteig ist eher gemütliches Schlendern. Und nebendran auf den Straßen ist der Einsatz von Hupen verpönt. Die Frittenbuden heißen absichtsvoll nicht Schnellimbisse. Denn wer Pommes bei “Antoine” kauft, der berühmtesten Frituur der Stadt, muss gut eine Dreiviertelstunde anstehen. Das tun die Belgier mit einer Engelsgeduld – genauso wie übrigens im Supermarkt. Und wenn Sie doch einmal bei Delhaize oder Colruyt in der Reihe vor der Kasse stehen und den Einkaufswagen des ungeduldigen Herrn hinter Ihnen in die Hacken bekommen, weil sich die Kassiererin Zeit für ein kleines Schwätzchen nimmt, sollten Sie sich nicht wundern, wenn er nicht “Pardon” sagt, sondern “‘Tschuldigung”.