LEITARTIKEL

Der Problem-Gipfel

An dem heute beginnenden EU-Gipfel wird erstmals auch Ursula von der Leyen teilnehmen. Die designierte Präsidentin der Europäischen Kommission soll den Staats- und Regierungschefs ihre Prioritäten für die kommenden fünf Jahre erläutern. Dumm nur,...

Der Problem-Gipfel

An dem heute beginnenden EU-Gipfel wird erstmals auch Ursula von der Leyen teilnehmen. Die designierte Präsidentin der Europäischen Kommission soll den Staats- und Regierungschefs ihre Prioritäten für die kommenden fünf Jahre erläutern. Dumm nur, dass die CDU-Politikerin dabei nicht so genau sagen kann, mit welcher Mannschaft sie ihr Programm eigentlich umsetzen will. Gleich drei ihrer Kandidaten wurden vom Europaparlament gekippt – darunter auch Sylvie Goulard aus Frankreich, die zwar nicht als Vizepräsidentin der neuen EU-Kommission vorgesehen war, aber eine entscheidende Rolle im künftigen Machtgefüge hätte spielen sollen. Ihre Ablehnung kann auch als Retourkutsche der Abgeordneten gegen den französischen Präsidenten Emmanuel Macron für seine Rolle im EU-Personalpoker im Sommer verstanden werden. Die Abstimmung im Parlament über die Von-der-Leyen-Kommission wurde gestern erst einmal verschoben. Der Amtsantritt zum 1. November ist gestrichen.Eigentlich hatte dieser EU-Gipfel ja zum Start des neuen politischen Zyklus in Europa Aufbruchsignale senden sollen. Doch nicht nur der holprige und verspätete Start der neuen Kommission und die damit zusammenhängenden Personaldebatten sprechen dafür, dass das zweitägige Treffen in Brüssel eher ein Problem-Gipfel wird. Da ist zum Beispiel der Streit um das liebe Geld: Ursprünglich wollten sich die Mitgliedstaaten der EU-27 in diesem Herbst bereits über den nächsten mehrjährigen Haushaltsrahmen der Union geeinigt haben. Doch heute sind die Gräben in den Verhandlungen so tief wie lange nicht mehr. Alle Seiten beharren auf ihren Maximalforderungen. Und als die finnische EU-Ratspräsidentschaft jüngst einen Kompromissvorschlag vorgelegt hat, sind bei einer ersten Aussprache der EU-Botschafter die Fetzen geflogen, wie Diplomaten im Anschluss berichteten. Ein Momentum für eine Einigung im Haushaltsstreit wird es wohl erst kurz vor knapp unter deutscher Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 geben.Hinzugeraten sind auf die Gipfel-Agenda – kurzfristig und eigentlich so nicht geplant – auch noch einige außenpolitische Konfliktfelder: So müssen die Regierungschefs das schwierige Verhältnis zur Türkei nach der militärischen Offensive des Landes in Syrien noch einmal klären. EU-Ministerräte hatten sich bei dem Thema in den letzten Tagen nicht auf einheitliche Positionen verständigen können. Und dann gibt es auch noch Streit über eine mögliche weitere Osterweiterung der Europäischen Union. Auch hier steht wieder Macron im Mittelpunkt. Er hatte nämlich sein Veto gegen die eigentlich geplante Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien eingelegt und damit Glaubwürdigkeit und die ganze Westbalkan-Politik der EU in Frage gestellt. Und auch wenn andere Begründungen in Paris vorgeschoben werden: das Ganze wohl aus innenpolitischen Erwägungen.Und über all dem schweben weiter die ganzen politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten, die der Brexit mit sich bringt. Auch hier musste erst der Zeitdruck so richtig groß werden, dass wieder Bewegung in die Verhandlungen gekommen ist und bis kurz vor Gipfelbeginn ernsthaft um eine Verständigung gerungen wurde. Erst vor einer Woche hat sich Boris Johnson in der Nordirland-Zoll- und -Grenzfrage bewegt und damit die Türen für eine Einigung geöffnet.Es wäre gut, wenn die Staats- und Regierungschefs die noch offenen Brexit-Fragen möglichst rasch abräumen könnten. Der Austritt Großbritanniens ist für die Europäische Union eine Zäsur. Allerdings, so bedauerlich er auch ist: Er hat die EU jetzt lange genug gelähmt. Es wird Zeit für die europäischen Institutionen, sich wieder intensiv den drängenden anderen Problemen zu widmen. Dass es davon genügend gibt, zeigt der jetzige EU-Gipfel einmal mehr als deutlich.Und Ursula von der Leyen? Sie dürfte sich ihren ersten Europäischen Rat wahrscheinlich auch ein wenig anders vorgestellt haben. Es dürfte ihr aber eine Warnung sein, dass die von ihr angekündigte “geopolitische Kommission”, die auch gegenüber Drittstaaten die “Hüterin des Multilateralismus” spielt, alles andere als einfach umzusetzen sein wird. Und auch die Gespräche über den künftigen EU-Haushalt dürfte von der Leyen sehr aufmerksam verfolgen: Denn sollte sich die Bundesregierung, der sie selbst ja noch bis vor kurzem angehört hat, mit ihrer harten Haltung durchsetzen, dann dürften auch so einige der Von-der-Leyen-Versprechungen wegen Nichtfinanzierbarkeit wieder gestrichen werden. ——Von Andreas HeitkerEigentlich sollten vom EU-Gipfel Aufbruchsignale für die neue Legislatur ausgehen. Doch stattdessen muss erst einmal Streit in eigenen Reihen gelöst werden.——