Im Interview:Carsten Mumm, Chefvolkswirt Donner & Reuschel

„Deutschland braucht einen ökonomischen Neustart“

Die deutsche Wirtschaft steckt in einem ökonomischen Abwärtsstrudel. Die Wirtschaft stagniert, Investitionen bleiben aus, technologisch verliert man den Anschluss. Was tun? Ein Gespräch mit dem Chefvolkswirt der Privatbank Donner & Reuschel, Carsten Mumm.

„Deutschland braucht einen ökonomischen Neustart“

Im Interview: Carsten Mumm

„Deutschland braucht einen ökonomischen Neustart“

Politik und Wirtschaft fällt es schwer, wieder an frühere Erfolge anzuknüpfen – Eine neue Agendapolitik samt Investitionsfonds sind überfällig

Die deutsche Wirtschaft steckt in einem ökonomischen Abwärtsstrudel. Die Wirtschaft stagniert, Investitionen bleiben aus, technologisch verliert man den Anschluss. Was tun? Ein Gespräch mit dem Chefvolkswirt der Privatbank Donner & Reuschel, Carsten Mumm.

Herr Mumm, was ist los mit der deutschen Wirtschaft? Stagnation, Strukturprobleme, marode Infrastruktur, Überbürokratisierung, Investitionsattentismus allerorten. Nun hat sich auch noch die Weltwirtschaft gegen uns gewendet. Das deutsche Geschäftsmodell wird ausgehebelt. Brauchen wir einen Neustart?

Die Situation ist in der Tat einigermaßen komplex. Uns stehen multiple Krisen und ein ganzes Bündel an Transformations- und Modernisierungsaufgaben bevor. Und ja, dafür brauchen wir einen Neustart in Form einer neuen Agenda, weil die Problemlage in ihrer Dichte und Vielgestaltigkeit auch neu ist. Gefragt ist eine Agenda 2030 oder 2035, angelehnt an die Agenda 2010 von 2005. Damals wurde eine soziale Zeitenwende eingeleitet. Und die hat funktioniert. Jetzt brauchen wir eine ökonomisch-technologische Zeitenwende.

Warum fliegen uns die ganzen Probleme erst jetzt um die Ohren?

Die deutsche Wirtschaft war einmal perfekt auf die globalen und nationalen Umstände eingestellt mit billiger Energie, niedrigen Zinsen, einem schwachen Euro, ausgerichtet auf den Export – und das alles in einem enorm produktiven und effizienten Umfeld, um die hohen Löhne und unseren Wohlstand finanzieren zu können. Aber schon seit Jahren hat sich vieles verändert: Energie wurde teurer, Protektionismus machte sich breit, die Baby-Boomer traten in die Rente ein, Lieferketten wurden brüchig und neue Technologien kamen auf, die wir hier mehr oder weniger verschlafen haben. Und zu guter Letzt zeigen sich inzwischen auch noch die Infrastrukturschwächen, weil über Jahre auf Verschleiß gefahren wurde.

Der gelernte Bankkaufmann und studierte Diplom-Volkswirt Carsten Mumm ist Chefvolkswirt der Privatbank Donner & Reuschel. Seit 1998 ist er im Bereich Kapitalanlage beschäftigt und qualifizierte sich 2006 zum Chartered Financial Analyst (CFA). Er lehrt zudem an der International School of Management, und ist ehrenamtlicher Mentor an der EBC Hochschule in Hamburg.

Weshalb wird erst jetzt reagiert?

Das ist auch eine Spätfolge der langanhaltenden Niedrigzinsphase. Wirtschaftliche Erfolge waren leicht einzufahren, die Renditen hoch, und China hat die Produktion geradezu aufgesogen. Das hat alle Beteiligten – Unternehmen, Politik aber auch die Gesellschaft – träge und erfolgsverwöhnt gemacht.

Die Klimawende ist zugleich Lösung und Problem der Wirtschaft.

Die Politik scheint nun darauf mit Industriepolitik zu reagieren: Investitionen werden subventioniert, Energiepreise künstlich gedeckelt. Kann das klappen?

Die Klimawende ist Lösung und zugleich Problem der Wirtschaft. Was die unmittelbare Reaktion auf die wirtschaftlichen Probleme angeht, so bestehen die aktuell aus politischer Flickschusterei. Subventionen lindern die Probleme allenfalls für eine gewisse Zeit. Und den Protektionismus im Welthandel drängen wir damit auch nicht zurück, im Gegenteil befördern Subventions- und Industriepolitik diesen noch mehr.

Wo kann man also ansetzen?

Die deutsche Industriepolitik versteht sich als Antwort auf die Industriepolitik Chinas und die Handelsrestriktionen in den USA. Autozölle und der Green Deal der EU bremsen jedoch ebenfalls freie Märkte aus. Und auch bei den neuen Umweltmärkten, die nach Ansicht der Bundesregierung der neue Wachstumstreiber werden sollen für die deutsche Industrie, läuft es derzeit gar nicht rund; wir geben kein gutes (Vor-)Bild ab.

Von außen betrachtet scheint es in Berlin keinen Masterplan zu geben.

Inwiefern?

Industrie und Verbraucher klagen über Missmanagement, fehlende Perspektiven und erratische Förderpolitik. Und von außen betrachtet scheint es keinen Masterplan zu geben, um international die deutsche Klimatransformation promoten zu können. Wo sind die grünen Technologien, die uns aus den Händen gerissen werden sollen? Wärmepumpen? Das kann das Ausland auch. Zudem scheint die Bundesregierung nicht das ganze Bild im Blick zu haben, sondern sich an Details abzuarbeiten. Denken Sie an die Öko-Standards beim Hausbau. Die sind inzwischen so hoch, dass der ökologische Vorteil nicht mehr messbar ist, aber die Baukosten in die Höhe schießen. Inzwischen ist man da etwas zurückgerudert. Tatsache ist: Es wird zu viel diktiert, zu wenig pragmatisch gedacht.

Das geht ja in der Regel auch mit viel Bürokratie einher.

Richtig, mehr Pragmatismus, weniger Paragrafen, das wäre meine Richtschnur.

Können Sie das konkretisieren?

Um die Klimatransformation schultern zu können, muss zunächst die deutsche Wirtschaft wieder flott gemacht werden, sonst scheitern wir. Und um kostenmäßig wieder wettbewerbsfähig werden zu können, müssen wir alles daransetzen, um die Produktivität zu steigern und unser gesamtes Portfolio zu modernisieren – Digitalisierung, Automatisierung, Roboter und KI. Das gilt auch für die Verwaltung, weil sonst das nötige Veränderungstempo bei der Klimatransformation aber auch bei den anderen Baustellen nicht umgesetzt werden kann.

Bei der Ausweitung des Sozialstaats klagt niemand über die Schuldenbremse.

Aber haben Sie da nicht noch etwas vergessen? Die marode Infrastruktur, wie zuletzt der Brückeneinsturz in Dresden wieder vor Augen geführt hat.

Das ist offensichtlich. Es haben sich große Versäumnisse aufgebaut. In der Sozialpolitik wurde immer wieder nachgesteuert und neue Finanzmittel besorgt, während notwendige Investitionen in die Infrastruktur unterblieben sind. Und während niemand über die Schuldenbremse klagt, wenn es um die Ausweitung des Sozialstaats geht, scheint das bei Investitionen die große Hürde zu sein. Dabei hängt das eine mit dem anderen zusammen: Wenn wir infrastrukturmäßig und technologisch kein Technologieführer mehr sind, können wir uns auch diesen Sozialstaat bald nicht mehr leisten.

Wie kann man den gordischen Knoten durchschlagen?

Vielleicht muss man, um beim Start der neuen Agenda einen gehörigen Anschubimpuls auszulösen, tatsächlich einen größeren Investitionsfonds auflegen, wie das ja auch Verbände und Institutionen wie der BDI, das IW und das IMK schon mehrfach vorgeschlagen haben. Und auch wenn die Schuldenbremse ein wichtiges Instrument ist, um die Staatsausgaben zu zügeln, sollte sie reformiert werden, um mehr Bewegungsspielraum zu bekommen. Aber es führt nichts daran vorbei, auch alle Sozialstaatsausgaben auf den Prüfstand zu stellen.

Dass mehr Finanzmittel in die Modernisierung der Infrastruktur fließen müssen, ist unbestritten. Aber dann stellen wir erst den Status-quo-ante wieder her. Wir müssen doch weitergehen.

Ja, es geht um die Innovationskraft unserer Unternehmen. Derzeit halten sie sich mit Investitionen zurück, weil es an der nötigen Planungssicherheit mangelt. Diese wieder zu vermitteln ist Aufgabe der Politik. Und das könnte etwa über eine besonders innovationsfreundliche Steuerpolitik geschehen. Das ist besser als industriepolitische Vorgaben und Hilfen, weil damit weniger direkt in die kreative Kraft des Marktes eingegriffen und mehr Planbarkeit vermittelt wird. Niedrige Steuersätze insgesamt, und noch bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen hier vor Ort sind das Mittel der Wahl.

Verlässliche Bürokratie ist per se zunächst einmal ein positiver Faktor.

Für viele Unternehmen ist der bürokratische Aufwand das größte Hindernis, weil er Kosten verursacht, Projekte verzögert und Investoren schier verzweifeln lässt. Wo muss man ansetzen?

Verlässliche Bürokratie ist per se zunächst einmal ein positiver Faktor, der unseren Standort eher stärkt, weil er Rechtssicherheit, Planbarkeit und Fairness sichert. Aber da kommen wir wieder auf den Punkt, den ich vorhin angesprochen habe: Die Freiräume müssen größer werden, es muss mehr Pragmatismus erlaubt sein statt direkte, bis ins Detail ausformulierte Vorgaben zu machen. Die Politik muss also ihre ideologische Grundhaltung verändern.

Warum funkt die Politik der Wirtschaft so dazwischen? Fehlt es ihr am Vertrauen in Marktprozesse?

Das hat auch damit etwas zu tun, weil sie ihren Willen oft eins-zu-eins durchsetzen will und keine anderen Lösungen duldet. Marktprozessen wird dagegen misstraut. Aber inzwischen sollte klar sein, dass sie mit Planwirtschaft nicht mehr weiterkommen. Zumal in den Verwaltungen nicht unternehmerisch genug gedacht wird, und sich so manche Behörde selbst gern mal im Vorschriftendickicht verheddert. Allen sollte klar sein, dass wir weder die Klimatransformation noch die Modernisierung unseres Standorts hinkriegen, wenn wir Vorhaben nicht schneller umsetzen.

Ein anderes Problem des Standorts ist der Fachkräftemangel und ein zunehmender Braindrain gut ausgebildeter junger Menschen ins Ausland.

Eigentlich steht Deutschland, was seine Fachkräfte angeht, international sehr gut da. Viele Länder sehnen sich nach der dualen Ausbildung und einer so dichten Hochschulstruktur, wie wir sie haben. Dass wir es nicht hinkriegen, genügend Einwanderer für eine Lehre hierzulande zu interessieren, ist erschreckend und wirft kein gutes Licht auf die dafür zuständigen Behörden. Hier braucht es offenbar eine Neuaufstellung. Und in der Grundlagenforschung liegt Deutschland auch weit vorne. Wir schaffen nur nicht den Schritt von der Forschung in die Produkte. Das liegt am Mangel an Fehlertoleranz, der wenig ausgeprägten Innovationskultur, fehlender Experimentierfreude und unzureichendem Wagniskapital.

Die Politik setzt eher auf Bewahrung als auf Fortschritt und Wagnis.

Und woran liegt das?

Ein Teil davon ist sicherlich Kultur und Mentalität, und liegt an einer Politik, die eher auf Bewahrung als auf Fortschritt und Wagnis setzt. Ein anderer Teil liegt in der fehlenden Aktienkultur. Wenn der nationale Kapitalmarkt nicht reicht, sind Gründer auf ausländische Investoren angewiesen – oder gründen gleich im Ausland. Auch hier muss die Politik umdenken. Denn für viele politische Akteure ist der Kapitalmarkt ja geradezu des Teufels: Von Börsen-Roulette, Zockerbude und Spielbank ist die Rede, wenn es etwa um Geldanlagen in Aktien für die Rente geht. Das prägt auch das Handeln der Menschen – und schlägt auf die Wirtschaft zurück.

Mit dem Aufkommen der KI steht Deutschland wieder an einem Punkt, an dem traditionelle Technik an Wert verliert. Glauben Sie, dass es diesmal besser läuft als bei der Digitalisierung?

Wir müssen uns klar sein, dass KI kommen wird, so oder so. Gestalten wir die Entwicklung nicht selbst, machen es die Amerikaner und Chinesen – oder andere. In deutschen Autos läuft schon seit geraumer Zeit Google oder Apple auf den Displays. Die Digitalriesen haben sich hier also bereits breitgemacht. Und die KI entwertet die Ingenieurtechnik im Auto weiter, und schmälert damit die Rendite. Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen. Dass die Risiken von KI eingefangen werden müssen, ist klar. Aber mir fehlt noch der Impuls aus Brüssel oder/und Berlin, wie man Unternehmen befähigen will, eigene KI-Plattformen auf Kiel zu legen – mit europäischem Know-how auch im Hinblick auf die kulturellen Eigenheiten.

Es braucht einen Anschub in Form eines Multi-Milliarden-Fonds unabhängig vom Haushalt.

Unterm Strich: Was muss in einer Agenda 2035 nun drinstecken?

Innenpolitisch ist das klar, denke ich: Bürokratieinstanzen streichen, Rechtswege ausdünnen, Vorhaben beschleunigen wie beim Bau der LNG-Terminals, das so genannte Deutschland-Tempo. Außerdem eine Steuerreform mit besonderem Fokus auf Investitionen, Ausbildung und Forschung; sowie eine Begünstigung von Arbeitseinkommen. Denn die Kapitaleinkommen haben in den vergangenen Jahrzehnten enorm zugewonnen. Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern ist auch nötig als Ausgleich zu den wohl weiter steigenden Sozialabgaben. Und schließlich braucht es natürlich einen Anschub in Form eines Multi-Milliarden-Fonds unabhängig vom Haushalt.

Mit dem Thema Kapital- und Arbeitseinkommen wären wir bei der Globalisierung angekommen, die erstere gewaltig gehebelt hat. Doch nun geht es mit Protektionismus und Blockbildung in die andere Richtung. Wie kann das in der Agenda berücksichtigt werden?

Die Globalisierung darf nicht ganz einschlafen, sondern muss neue Impulse erhalten. Aber in ihrer Form der Hyperglobalisierung hat sie sich überlebt, weil die gesellschaftlichen Widerstände zu groß geworden sind und sich zu viele ungewünschte Nebenwirkungen ergeben haben, wie bspw. ungezügelter Ressourcenverbrauch, überzogene Verschuldungen sowie Finanz- und Wirtschaftskrisen. Die WTO steht damit unmittelbar im Zusammenhang. Deshalb kann sie einen Neustart wohl nicht begleiten. Hier müsste die Bundesregierung Anstrengungen unternehmen für einen neuen Anlauf einer sozialverträglichen Globalisierung.

Wir müssen über eine Form des Grundeinkommens reden!

Welche konkreten Inhalte könnte so eine sozialverträgliche Globalisierung haben?

Es geht hier um Mindeststeuern, um eine gerechtere Besteuerung der Gewinne in den beteiligten Ländern, und um eine stärker gesteuerte, stufenweise Öffnung von Märkten. Wir brauchen allgemein akzeptierte ordnungspolitische Mindeststandards, bspw. für den Schutz von Investitionen und geistigem Eigentum und für einen fairen Marktzugang – auch für digitale Güter. Zudem globale Initiativen für den Schutz von Umwelt und Ressourcen oder um geopolitischen Konflikten zu begegnen. Zu erwarten sind mehr Direktinvestitionen als Teilersatz für überregionalen Handel.

Und das soll die Arbeiter in Deutschland überzeugen?

Wir müssen ihnen deutlich machen, dass sie nicht zurückgelassen werden. Und dass die Rückkehr zur „guten alten Zeit“ nicht funktioniert. Ihnen muss zudem glaubhaft vermittelt werden, dass es auch ihrem Leben nützt, wenn man international mehr zusammenarbeitet: Viele Produkte werden erschwinglicher, die Inflation wird in Zaum gehalten, und neue Jobs werden interessanter oder besser bezahlt. Und gerade für die berufliche Mobilität muss man ihnen neue Möglichkeiten eröffnen. Auch die Unternehmen müssen hier ihre Mitwirkung deutlicher machen. Und auch über eine Form des Grundeinkommens müssen wir reden.

Und die handelnden Staaten werden sich freiwillig darauf einlassen?

Naja, ich denke, sie werden verstehen, dass weder die Hyperglobalisierung noch Protektionismus die Lösung sein kann. Und bilaterale Abkommen sind zu umständlich. Vielleicht gereicht es zum Vorteil, dass die Welt nicht mehr nur zweipolig ist, sondern viele starke Volkswirtschaften aufweist, deren Interessen nur zusammengeführt werden müssen. Die Frage ist, welcher Institution die Staaten hierbei vertrauen. Vielleicht findet man mit China ausgehend von den Gesprächen über Autozölle einen gemeinsamen Nenner.


Das Interview führte Stephan Lorz.

Das Interview führte Stephan Lorz.

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