Deutschland muss sich neu erfinden
Von Stefan Paravicini
und Angela Wefers, Berlin
Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause hat der Deutsche Bundestag Ende Juni noch einmal über die Hightech-Strategie der Bundesregierung beraten. „Wir haben geliefert“, bilanzierte Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) die Arbeit ihres Ministeriums in den zurückliegenden vier Jahren. „Wir gehören in Europa und weltweit zu den führenden Nationen, wenn es darum geht, neue Antworten auf Fragen unserer Zeit zu geben“, heißt es im Bericht der Bundesregierung zur Hightech-Strategie. Das sei das Ergebnis einer Politik, die konsequent auf Forschung und Innovation setzt.
Tatsächlich lagen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) 2019 mit 3,18% der Wirtschaftsleistung in Deutschland so hoch wie nie zuvor (siehe Grafik). Das Ziel, bis 2025 gemeinsam mit den Ländern und der Wirtschaft die Forschungsausgaben auf 3,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzuheben, liegt in Reichweite. Die Zufriedenheit der Forschungsministerin mit der deutschen Forschungspolitik teilen trotzdem nur wenige.
Auf dem Forschungsgipfel im Mai zählte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu den schärfsten Kritikern der hiesigen Forschungsstrukturen. Sie würden die technologische Aufholjagd gegenüber Wirtschaftsmächten wie den USA und China behindern, sagte die Kanzlerin. Wenn man revolutionäre Ideen voranbringen wolle, dürfe man nicht in Legislaturperioden denken, sagte sie kurz vor Ende ihrer vierten Legislaturperiode im Kanzleramt.
Die Bewertung von Experten zum Stand der deutschen Forschungspolitik fällt ebenfalls gemischt aus. „Die Forschungs- und Innovationspolitik der Bundesregierung in den vergangenen zehn Jahren war sicherlich erfolgreich“, sagt Uwe Cantner, Professor an der Universität Jena und Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), die die Bundesregierung berät. Das zeige sich etwa in den einschlägigen Ranglisten zur F&E-Intensität. Deutschland zählt hier mittlerweile zu den Top-Nationen. „Da sind viele Dinge geschehen, die in die richtige Richtung gehen“, sagt der Ökonom und nennt als Beispiele den Zukunftsfonds zur Start-up-Förderung, die Gründung der Agentur für Sprunginnovationen, den Spitzenclusterwettbewerb und das Anfang 2020 in Kraft getretene Forschungszulagengesetz zur steuerlichen Förderung von F&E.
Karten werden neu gemischt
Für laufende Transformationen wie die Energie- oder die Mobilitätswende, in denen die Karten unter den globalen Technologieführern derzeit neu verteilt würden, sieht Cantner die deutschen Forschungsstrukturen allerdings nicht gut aufgestellt. „Die Welt ändert sich, die Politik der Bundesregierung bei Forschung und Innovation muss sich auch ändern und die Transformation mitvollziehen“, sagt der Ökonom. Gefordert seien nicht nur Verhaltensänderungen, sondern auch ein neues Politikdesign, wie es die EFI in ihrem jüngsten Gutachten vorschlägt, um Forschung und Innovation in Deutschland agiler zu machen. Das traut Cantner im Grundsatz allen Parteien zu, die sich um das Kanzleramt bewerben. „Wenn sie bereit sind, neue Politikansätze wie die Missionsorientierung und agile Governance-Strukturen für die Forschungs- und Innovationspolitik umzusetzen, kann das gelingen.“
Die Bereitschaft scheint vorhanden zu sein. So haben die Grünen mit dem Konzept für eine Deutsche Innovationsagentur unter dem Titel „D.Innova“ bereits einen eigenen Vorschlag für eine neue Governance-Struktur in der Forschungspolitik vorgelegt, mit dem sie die Idee der Transfergemeinschaft weiterentwickeln wollen, für die sich etwa die FDP schon länger starkmacht. Die Ziele sind vergleichbar: Innovations- und Anwendungsorientierung in der Forschung sollen gefördert werden, um den Transfer von Forschungsergebnissen in die Wirtschaft zu beschleunigen. Die Grünen verstehen die globalen Nachhaltigkeitsziele dabei als übergeordnete Mission für die Tätigkeit der D.Innova.
Die Union kündigt in ihrem Wahlprogramm an, ein Digitalministerium einzurichten und die 2019 gegründete Agentur für Sprunginnovationen (SprinD) von bürokratischen Fesseln zu befreien. Bei der SPD ist von neuen Governance-Strukturen nicht die Rede. Die Innovationsförderung soll aber auch hier aufgestockt und der Transfer in die Praxis vorangetrieben werden.
„Wir tun uns in Deutschland immer noch schwer, die wissenschaftlichen Erkenntnisse ökonomisch auf die Straße zu bringen“, sagt auch Cantner. Das ist allerdings nicht die einzige Herausforderung. „Problematisch ist auch die Ausrichtung unseres Innovationssystems auf inkrementelle, also kleine, schrittweise Neuerungen und unsere Schwäche, radikale Innovationen hervorzubringen“, so Cantner. „Wir sind super, wenn es darum geht, Autos zu perfektionieren oder noch bessere Maschinen zu bauen. Aber zu sagen, wir machen jetzt etwas ganz anderes, damit tun wir uns extrem schwer.“
Bisher erschienen:
Die Ausgangslage (2. Juli)