Deutschland muss Verkehrspolitik auf Schiene bringen
Von Stefan Paravicini, Berlin
Als Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) in diesem Frühjahr zusammen mit Dirk Messner, Chef des Umweltbundesamtes, die Treibhausgas-Bilanz für das Jahr 2020 vorstellte, lobte sie ausdrücklich auch den Verkehrssektor, der mit 146 Mill. Tonnen CO2 gleich um 19 Mill. Tonnen unter dem Vorjahr blieb und nicht nur sein Sektorziel schaffte, sondern auch wesentlich zum Erreichen des Klimaziels der Bundesregierung für 2020 beitrug. Messner übernahm danach die Aufgabe, den Beitrag der Corona-Pandemie zu den CO2-Einsparungen im Verkehrssektor herauszuarbeiten, und hatte eine nüchterne Botschaft auf seinem Sprechzettel: „Ich gehe davon aus, dass im Verkehrsministerium jeder versteht, dass man ab morgen an Maßnahmen arbeiten muss, weil die Coronaeffekte hier so bedeutend sind“, erklärte Messner in Richtung Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und sprach sich bei dieser Gelegenheit gleich noch für ein Ende des Verbrennungsmotors bis spätestens 2030 aus. Das sei die Voraussetzung dafür, den Verkehrssektor bis 2050 dekarbonisieren zu können – mittlerweile ist 2045 das Datum für das Erreichen der Klimaneutralität. Die Elektrifizierung sei günstiger, energieeffizienter und klimafreundlicher als der Weiterbetrieb von Verbrennern mit synthetischen Kraftstoffen, stellte Messner klar.
Pandemie drückt Emissionen
Ob die Botschaft des Umweltbundesamtes bei Scheuer angekommen ist, ist nicht verbürgt. Klar ist aber, dass die nächste Bundesregierung vor der Mammutaufgabe steht, die Treibhausgas-Emissionen des Verkehrssektors zu senken, nachdem die Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zurückgekehrt ist. In den vergangenen 30 Jahren ist das nicht gelungen. Im Vergleich mit dem Jahr 1990 lagen die Emissionen im Verkehrssektor 2019 sogar leicht über dem Ausgangswert. Die Reduktion der Flotten-Emissionswerte von Personen- und Lastkraftwagen wurden vom Wachstum des motorisierten Personen- und Güterverkehrs zum Teil überkompensiert. Die Steigerungen im Luftverkehr haben die Klimabilanz des Sektors zusätzlich belastet (siehe Grafik).
Ein Blick in die Wahlprogramme zeigt, dass der Deutschen Bahn in der nächsten Legislaturperiode auch vor dem Hintergrund der Klimaziele eine zentrale Rolle in der Verkehrspolitik zukommen wird. Das mag manchem Pendler und Urlaubsrückkehrer, der sich in diesen Tagen nach einer Zugverbindung mitten im eskalierenden Lokführerstreik erkundigt, ein gequältes Lächeln abringen. Doch sowohl bei der Union als auch bei den Grünen steht die Bahn im Kapitel Mobilität noch vor dem Thema Elektromobilität. Die SPD stellt in ihrem Programm zunächst fest, dass das Auto auch in Zukunft für viele Menschen wichtig bleibt, will den Schienenverkehr aber ebenfalls zu einem Schwerpunkt ihrer verkehrspolitischen Agenda machen. Die Liberalen stellen in ihrem Programm zunächst klar, dass „Tempolimits, Diesel- oder Motorradfahrverbote weder progressiv noch nachhaltig“ sind, wollen aber ebenfalls mehr Personen und Güter auf die Schiene bringen. Dazu soll der Bahnverkehr privatisiert werden und nur die Infrastruktur im Eigentum des Bundes bleiben. Auch die Grünen haben in der Vergangenheit schon laut darüber nachgedacht, ob die Gesellschaftsform und die Struktur der Deutschen Bahn AG geeignet sind, die verkehrspolitischen Aufgaben zu lösen. „Den Deutsche-Bahn-Konzern wollen wir transparenter und effizienter machen und auf das Kerngeschäft ausrichten“, heißt es im Wahlprogramm.
„Das Rückgrat jeder Form von nachhaltiger Mobilität sind die kollektiven integrierten Verkehrssysteme. Das ist einfach so, weil die Kombination von Massenleistungsfähigkeit, geringer Flächenintensität und geringer Emissionsintensität am besten ist“, sagt der Mobilitätsforscher Stephan Rammler vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung über die Bahn (siehe Interview). Das habe die Politik mittlerweile auch begriffen.
Die Allianz pro Schiene zog vor wenigen Tagen dennoch eine gemischte Bilanz zu den verkehrspolitischen Weichenstellungen in der zu Ende gehenden Legislaturperiode. Die Bundesregierung habe im vergangenen Jahr mit 88 Euro pro Einwohner zwar so viel Geld wie nie zuvor für die Schieninfrastruktur ausgegeben. Im internationalen Vergleich hinke Deutschland aber hinterher. Italien liegt demnach bei Ausgaben von 120 Euro pro Einwohner und die Schweiz sogar bei 440 Euro pro Kopf. Wer immer im September die Wahl gewinne, müsse deshalb die Infrastrukturinvestitionen erhöhen, heißt es bei der Schienenlobby.
Eine Million E-Fahrzeuge
Deutlich ausgeweitet werden müssen in der nächsten Legislaturperiode auch die Investitionen in die Lade-Infrastruktur für Elektrofahrzeuge. Im Juli wurde nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) erstmals die Zahl von 1 Million Elektrofahrzeugen in Deutschland überschritten. Bei den Pkw dürfte es in diesem Monat so weit sein. Per 1. April waren laut KBA mehr als 48 Millionen Autos mit Verbrennermotor in Deutschland zugelassen.
„Jetzt müssen wir noch einmal durchstarten, um das Potenzial der Elektromobilität vollends auszunutzen und die Klimaziele bis 2030 auch wirklich zu erreichen“, sagte Umweltministerin Schulze zum Erreichen der Millionenschwelle. Nach der Verschärfung der Klimaziele darf der Verkehrssektor 2030 noch 85 Mill. Tonnen CO2 ausstoßen. Dafür müssen nach Einschätzung von Verkehrsminister Scheuer in den nächsten Jahren 14 Millionen Elektrofahrzeuge auf die Straßen rollen. Das wird nur reichen, wenn die nächste Bundesregierung die Verkehrspolitik auf die Schiene bringt.