GASTBEITRAG

Deutschland trägt beim EU-Wiederaufbau ein immenses Haftungsrisiko

Börsen-Zeitung, 4.12.2020 Mit ihrem Corona-Wiederaufbauplan "Next Generation EU" betritt die EU bei der Finanzierung europäischer Ausgaben Neuland. Die Europäische Kommission wird ermächtigt, den 750 Mrd. Euro schweren Plan durch die Emission von...

Deutschland trägt beim EU-Wiederaufbau ein immenses Haftungsrisiko

Mit ihrem Corona-Wiederaufbauplan “Next Generation EU” betritt die EU bei der Finanzierung europäischer Ausgaben Neuland. Die Europäische Kommission wird ermächtigt, den 750 Mrd. Euro schweren Plan durch die Emission von Anleihen zu finanzieren. Derzeit wird der neue Eigenmittelbeschluss, der den Weg für die neuen EU-Bonds frei machen soll, noch von Ungarn und Polen blockiert. Wenn dieser Konflikt beigelegt ist, muss der Beschluss in allen 27 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden. In Deutschland ist die Zustimmung des Bundestags notwendig. Keine ObergrenzeIn allen Entscheidungen über europäische Finanzhilfen seit der Eurokrise hat der Bundestag in Bezug auf die akzeptable Haftung immer einen vorsichtigen Kurs gehalten. Vorschläge zur Einführung sogenannter “Euro-Bonds” mit gesamtschuldnerischer Haftung aller Mitgliedstaaten waren bislang nicht mehrheitsfähig. Für die Zustimmung zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) im Jahr 2012 hatte es noch eine Schlüsselrolle gespielt, dass die Haftung der Bundesrepublik “unter allen Umständen” teilschuldnerisch begrenzt bleibt. So haftet der Bundeshaushalt für die ESM-Kredite mit ihrer gegenwärtigen Obergrenze von 500 Mrd. Euro nur bis maximal 190 Mrd. Euro. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, welch weitreichende maximale deutsche Haftung der Bundestag nun offenbar akzeptieren wird. Denn für den neuen europäischen Schuldentopf gibt es aus deutscher Sicht keine Obergrenze der Nachschusspflichten. Charakter und Ausmaß dieser Eventualverbindlichkeit werden deutlich, wenn man den neuen Eigenmittelbeschluss im Detail betrachtet.Unmittelbar gegenüber den Anleihegläubigern verantwortlich ist nur der EU-Haushalt, aus dem Zinsen und Tilgung aufgebracht werden müssen. Für die Tilgungsleistung ist zu berücksichtigen, dass 360 Mrd. Euro des Gesamtpakets als Kredite an die Mitgliedstaaten vergeben werden. Wenn die Kreditnehmer zahlungsfähig bleiben, tilgt sich dieser Anteil der EU-Anleihen “von selbst” durch Rückzahlungen der Länder. Zulasten des EU-Haushalts gehen hingegen neben der gesamten Verzinsung die Tilgung der Zuschusskomponente in Höhe von 390 Mrd. Euro. Die Tilgung aller Corona-Schulden muss bis 2058 erfolgen. Die EU verfügt bislang nur über relativ geringe echte Eigenmittel etwa aus den Zolleinnahmen. Indirekte HaftungIn den nächsten Jahren sollen neue Eigenmittel eingeführt werden. Ob dies gelingt, ist heute unabsehbar. Bis auf Weiteres ist der EU-Haushalt somit ganz wesentlich auf die nationalen Beitragszahlungen angewiesen, die weitgehend proportional zum Bruttonationaleinkommen (BNE) der Länder berechnet werden. Daraus ergibt sich für die Next-Generation-Verschuldung eine indirekte Haftung der Mitgliedstaaten. Zwar muss der EU-Haushalt die Anleihen bedienen, für die Zahlungsfähigkeit des EU-Haushalts stehen aber die Mitgliedstaaten gerade. Im Eigenmittelbeschluss wird diese indirekte Haftung durch eine erhöhte Eigenmittelobergrenze abgebildet. Während die Eigenmittel für die geplanten regulären Haushaltsmittel auf 1,4 % des BNE der EU begrenzt sind, erhält der Haushalt eine Zusatzmarge in Höhe von 0,6 Prozentpunkten des BNE zur Rückzahlung der Coronaschulden. Im Umfang dieser Marge kann die Kommission zusätzlich Beiträge von den Mitgliedstaaten abrufen. Diese Erhöhung mit ihrer eventuellen Nachschusspflicht gilt für die kommenden 38 Jahre.Eine sorgfältige Risikobewertung für den Bundeshaushalt muss prüfen, was passiert, wenn Mitgliedstaaten ihren finanziellen Verpflichtungen im Laufe dieses langen Zeitraums nicht nachkommen können oder wollen. So ist denkbar, dass Länder ihre Kredite nicht vertragsgemäß zurückzahlen und Teile des 360-Milliarden-Euro-Kreditpakets ausfallen. Ebenso wenig kann man ausschließen, dass Mitgliedstaaten einem Mittelabruf zugunsten des EU-Haushalts nicht nachkommen oder vielleicht aufgrund eines No-Deal-Austritts aus der EU für immer als Beitragszahler verloren gehen.Artikel 9 des Eigenmittelbeschlusses stellt klar, dass es bei Nichtleistung eines Mitgliedstaats zur anteiligen Übernahme von dessen Verpflichtungen durch die verbleibenden zahlungsfähigen Länder kommt. Die Kommission ist dann berechtigt, zusätzliche Mittel bei den anderen Mitgliedstaaten anzufordern. Dabei würde jeder Fehlbetrag proportional zu den Beitragsanteilen auf die verbleibenden solventen Mitgliedstaaten umgelegt. Für diese Lastverschiebung gibt es nur eine einzige verbindliche Obergrenze: Die Zusatzzahlungen, die ein einzelner Mitgliedstaat zur Bedienung der EU-Anleihen leisten muss, sind “in jedem Fall” auf die genannte Marge von 0,6 % des nationalen BNE begrenzt (Art. 9 Abs. 6).An dieser Stelle kommt zur Abschätzung der deutschen Maximalhaftung ins Spiel, dass diese 0,6-Prozentpunkt-Marge eine sehr weitgehende Überdeckung der Coronaschulden beinhaltet. Gemäß Berechnungen des ZEW für die Anhörung zum Eigenmittelbeschluss im Bundestag ist bereits die deutsche Zusatzmarge von 2028 bis 2058 allein ausreichend, um die kompletten EU-Coronaschulden zu tilgen. Dies gilt sogar dann, wenn sehr pessimistische Annahmen zum deutschen Wachstum getroffen werden. Dies bedeutet, dass die einzig existierende formale Begrenzung der Zuschusspflicht für ein großes Land wie Deutschland keinerlei materielle Risikobegrenzung zur Folge hat. Anders als beim ESM ist die Haftung des Bundeshaushalts für die neuen Corona-EU-Bonds somit in Bezug auf die Gesamtsumme von 750 Mrd. Euro de facto unbegrenzt. Wann immer es in den kommenden vier Jahrzehnten zu Insolvenzen, Zahlungsverweigerungen oder Austritten von EU-Mitgliedstaaten kommt, wird die finanzielle Belastung des Bundeshaushalts aus der EU-Schuldentilgung steigen, wenn es nicht gelingt, die Ausfälle zum Beispiel durch Ausgabenkürzungen im EU-Haushalt oder neue Eigenmittel zu kompensieren. Staatsinsolvenzen realistischMan mag einwenden, dass alle Kalküle zum Zahlungsausfall von EU-Staaten oder zu neuen EU-Austritten eine reichlich pessimistische Sicht beinhalten. Es ist aber gerade das Wesen einer Risikobewertung, pessimistische Szenarien abzuprüfen. Dass die Schuldentragfähigkeit etlicher EU-Staaten sogar schon bis zum Jahr 2030 akut gefährdet ist, das bestätigt sogar die Europäische Kommission in ihren Analysen. Staatliche Insolvenzen in der EU sind auf Sicht der nächsten vier Jahrzehnte somit definitiv eine realistische Perspektive. Auch sind die 38 Jahre bis zur finalen Tilgung der neuen EU-Schulden eine sehr lange Zeit im Hinblick auf politische Risiken. Wohl kaum jemand hätte im Jahr 1982 geahnt, mit was für politischen Krisen Europa bis zum Jahr 2020 konfrontiert sein würde – inklusive des Aufstiegs populistischer Parteien und des Verfalls von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in EU-Mitgliedstaaten bis hin zum Brexit und damit dem Austritt eines großen Beitragszahlers. Wer heute nicht einmal die Wahl Marine Le Pens zur französischen Staatspräsidentin im Jahr 2022 sicher ausschließen kann, sollte derartige Negativszenarien für 38 Jahre nicht als Panikmache abtun.Es gibt viele gute Gründe dafür, dass der Bundestag mit großer Mehrheit dem EU-Coronaplan inklusive Finanzierung zustimmen sollte. Die Abgeordneten müssen sich für die Finanzierungsseite aber bewusst sein, dass sie faktisch den langjährigen Widerstand Deutschlands gegen europäische Verschuldungsinstrumente mit unbegrenzter Kollektivhaftung für einen wichtigen Präzedenzfall aufgeben. Die neuen EU-Anleihen entsprechen in ihren Haftungsimplikationen für den Bundeshaushalt viel eher den lange Zeit in Deutschland tabuisierten Euro-Bonds als der teilschuldnerischen Haftung des ESM. Und dieses Haftungsrisiko ist real. Friedrich Heinemann, ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung