Die 1 000-Milliarden-Euro-Frage
Mini-Inflation und Wirtschaftsflaute – die EZB steht unter enormem Druck. Am heutigen Donnerstag beraten die Euro-Währungshüter erneut ihren Kurs. Im Fokus steht vor allem Notenbankchef Mario Draghi, der derzeit viel Kritik einstecken muss.Von Mark Schrörs, Frankfurt”Unser (…) Ziel ist es, die Größe unserer Bilanz in Richtung der Dimension zu lenken, die sie Anfang 2012 hatte.” Mit diesem Satz nach der Sitzung des EZB-Rats Anfang September hat Notenbankchef Mario Draghi nicht nur viele Kollegen im Führungsgremium überrascht und so manchen verärgert, sondern auch die Märkte elektrisiert – bedeutete er doch de facto die Selbstverpflichtung, dass die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Bilanz um rund 1 000 Mrd. Euro ausweitet. Anfang Oktober rückte er zwar etwas von dieser Aussage ab. Die Schwelle aber steht nun. “Jede EZB-Maßnahme wird daran gemessen”, sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-DiBa. Wandel in der GeldpolitikFür die meisten Marktteilnehmer und Volkswirte ist klar, dass die bisher beschlossenen Maßnahmen – die neuen gezielten, langfristigen Refinanzierungsgeschäfte (TLTROs) sowie die beiden Kaufprogramme für Covered Bonds und Kreditverbriefungen (Asset Backed Securities, ABS) – nicht ausreichen werden, eine solche Ausweitung zu erreichen. Auch deshalb haben zuletzt Spekulationen noch zugenommen, wie die EZB nachlegen könnte. Vor allem die Erwartung, dass sie doch noch Staatsanleihen kauft, ist deutlich gestiegen. In einer am Montag veröffentlichten Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters veranschlagten Händler dafür nun eine Wahrscheinlichkeit von 50 %. Gerade eine solche implizite Art der Vorfestlegung auf Staatsanleihekäufe war aber das, was die Kritiker einer konkreten Zielgröße im EZB-Rat tunlichst vermeiden wollten (siehe nebenstehenden Bericht).Dass die EZB nun überhaupt derart explizit auf eine deutliche Ausweitung der Bilanz abzielt, bedeutet in jedem Fall einen enormen Wandel in der Euro-Geldpolitik – von dem keineswegs alle Notenbanker überzeugt sind. Für die Befürworter ist dagegen klar, dass es nach Erreichen der Untergrenze der nominalen Zinssätze – der Leitzins liegt nun nur noch bei 0,05 % – andere Kanäle brauche, um die Geldpolitik noch expansiver zu machen, wie EZB-Vizepräsident Vítor Constâncio unmittelbar nach der September-Entscheidung im Interview der Börsen-Zeitung sagte. Er verwies darauf, dass die Bilanzsumme die Inflationserwartungen beeinflusse und auch die Investitionsentscheidungen der Investoren. Das strahle auf andere Vermögensmärkte aus und habe auch Einfluss auf den Wechselkurs, argumentierte er.In der Tat spielt der Euro-Kurs aktuell eine zentrale Rolle. Hinter vorgehaltener Hand heißt es im Eurotower, dass mit dem umstrittenen Staatsanleihenkaufprogramm OMT (Outright Monetary Transactions) im Grunde das erreicht worden sei, was die anderen Notenbanken mit ihrem umfangreichen Quantitative Easing (QE) inklusive des Erwerbs von Staatsanleihen erreicht hätten – und dies, ohne dass auch nur eine einzige Anleihe gekauft worden sei. Vor allem die Zinsen für Staatspapiere der Krisenländer seien deutlich gesunken. Tatsächlich erreichten die Renditen etwa für Spanien und Italien zwischenzeitlich gar Rekordtiefs. Nur ein QE-Effekt habe sich durch OMT nicht eingestellt, heißt es weiter: eine Abwertung der Währung.Im Gegenteil: Im Frühjahr war der Euro zum Dollar auf knapp 1,40 Dollar geklettert, und das trotz niedriger Inflation und mauer Konjunktur im Euroraum. Das Niveau galt selbst so manchem unter jenen Notenbankern als zu hoch, die sonst eigentlich nicht auf Abwertungspolitik setzen. Nachdem der Euro nun aber deutlich abgewertet hat – zum Greenback pendelt er aktuell bei rund 1,25 Dollar -, hat sich das Bild gewandelt. So mancher von ihnen hält das aktuelle Niveau nun für angemessen, zumal Euroland einen Leistungsbilanzüberschuss erwirtschaftet. Debatte über Euro-KursEinige andere aber scheinen nach wie vor überzeugt, dass der Euro noch schwächer sein sollte, um die Exportwirtschaft zu unterstützen und über höhere Importpreise für mehr Inflation zu sorgen – oder zumindest einen weiteren Rückgang der Teuerung zu verhindern. Dabei helfe eine steigende Bilanz.Laut der jüngsten Reuters-Umfrage unter Volkswirten muss die EZB ihre Bilanz um rund 1 000 Mrd. Euro ausweiten, um die Inflation im Euroraum zu erhöhen, die mit zuletzt 0,4 % im Oktober deutlich unter dem Zielwert von “unter, aber nahe 2 %” liegt. Die Übereinstimmung mit der von Draghi indirekt genannten Zielgröße ist aber bemerkenswert und dürfte manchen zweifeln lassen, dass das Zufall sein kann. Mitunter scheinen sich in der Tat EZB und Märkte gegenseitig zu treiben. Empirisch jedenfalls gilt das Volumen der Bilanzsumme, ab dem sich eine nachhaltig höhere Konjunktur- und Inflationsdynamik im Euroraum einstellt, als schwer abzuschätzen, wie auch Johannes Mayr, EZB-Experte der BayernLB, in einem aktuellen Research schreibt. Auch der Zusammenhang zwischen Geldbasis und Realwirtschaft ist durchaus umstritten.Nach Draghis September-Aussage über die Bilanz und dem Unmut darüber ist er selbst bereits zurückgerudert. Die Bilanzausweitung sei kein Selbstzweck, sagte Draghi nach der Sitzung des EZB-Rats Anfang Oktober. Entscheidend sei am Ende, wie alle Maßnahmen auf die Inflation wirkten. Ganz ähnlich äußerte sich unlängst auch noch einmal EZB-Chefvolkswirt Peter Praet. Die Debatte, ob doch eine konkrete Zielgröße genannt werden soll, scheint aber intern weiterzugehen.Viele im Eurotower wissen jedoch, dass dies zumindest für die Bilanz gar nicht so einfach ist. Denn die hängt nicht nur davon ab, was die Notenbanker tun. Da die EZB bis vor wenigen Monaten in ihrem Krisenmanagement vor allem darauf setzte, die Banken mit so viel Liquidität zu versorgen, wie diese wollen, kommt es stark auf deren Verhalten an. Der merkliche Rückgang im Jahr 2013 resultiert nicht zuletzt daraus, dass die Banken frühere Liquiditätsspritzen zurückgezahlt haben. Dieser Rückgang hatte der EZB viel Kritik eingebracht, weil er angesichts parallel steigender Bilanzsummen vor allem der Fed und der Bank of Japan mitverantwortlich gemacht wurde für die zwischenzeitliche Euro-Stärke. Kein automatischer Exit mehrDie EZB selbst hatte bis vor gar nicht allzu langer Zeit stets betont, dass diese Konstruktion quasi einen “automatischen Exit” aus dem Krisenmodus bedeute: Wenn die Banken die Hilfen nicht mehr bräuchten, würden diese von selbst zurückgehen. Wenn nun in großem Stil Wertpapiere direkt aufgekauft werden, ist das eine Kehrtwende. Die behagt nicht jedem. “Der Ausstieg, der irgendwann kommen muss, wird dadurch ganz sicher nicht einfacher”, sagt ein Notenbanker.Aktuell aber ist der Exit für die EZB ohnehin kein Thema: Auch im EZB-Rat machen viele Druck, mehr zu tun. In der Diskussion ist etwa, die Kaufprogramme auf Unternehmensanleihen auszuweiten – auch wenn diese Überlegungen zuletzt nicht groß vorangekommen zu sein scheinen. Letztlich wissen aber alle Notenbanker, dass es im Euroraum eigentlich nur eine Wertpapierklasse gibt, für die der Markt so groß ist, dass die EZB-Bilanz massiv ausgeweitet werden könnte: Staatsanleihen.