"Die Arbeitgeber denken um"
Im Interview: Cyrus de la Rubia
"Die Arbeitgeber denken um"
Der Chefvolkswirt der Hamburg Commercial Bank zum Arbeitskräftemangel, zu Fehlentscheidungen der Politik sowie Chancen für den Standort
Die Unternehmen klagen allenthalben über den Fachkräftemangel. Der aber war lange vorhersehbar und die Politik hatte diesen etwa durch Vorruhestandsregelungen und Versäumnisse bei der Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt noch befördert, kritisiert Cyrus de la Rubia. Mehr Automatisierung und künstliche Intelligenz könnten helfen.
Stephan Lorz, Frankfurt
Allenthalben klagen Unternehmen über den Facharbeitermangel, gleichzeitig sonnt sich die Politik im nach wie vor robusten Zustand des Arbeitsmarkts trotz Rezession und Wachstumsschwäche. Wie passt das zusammen?
Bis 2035 verlassen per saldo sieben Millionen Menschen den Arbeitsmarkt. Aber Menschen die Schuld dafür zu geben, dass sie alt werden und in den wohlverdienten Ruhestand gehen, macht wenig Sinn. Vielmehr müssen sich die Politik und viele Unternehmensführungen an die eigene Nase fassen und fragen, ob sie in den letzten Jahren mit staatlich geförderten Vorruhestandsregelungen und der Rente mit 63 nicht zu kurzsichtig agiert haben.
Wann und wie hätte man seinerzeit in Erwartung dieser Entwicklung noch reagieren müssen?
Der Arbeitskräftemangel hat sich ja abgezeichnet, demografische Entwicklungen sind relativ gut vorhersehbar. Das gilt gesamtwirtschaftlich, das gilt auch auf Unternehmensebene. Alle Maßnahmen, die diesen Trend noch mal verschärft haben, waren schon damals fragwürdig. Das gilt auch für die Planung im Bildungsbereich, wo jetzt in jedem Bundesland über Lehrermangel geklagt wird. Man hätte natürlich auch vor einigen Jahrzehnten versuchen können, den niedrigen Geburtenraten entgegenzuwirken. Das ist allerdings zugegebenermaßen ein schwieriges Unterfangen, mit dem schon viele andere Länder gescheitert sind. Die Bedeutung der Integration von Menschen aus dem Ausland in unsere Gesellschaft und den Arbeitsmarkt hat man meines Erachtens jedoch allzu sehr vernachlässigt.
Was kann man heute noch gegen den Arbeitskräftemangel tun?
Auf der persönlichen Ebene kann man einiges tun, um mit den neuen Verhältnissen zurechtzukommen. Legen Sie sich beispielsweise nicht mit Handwerkern an – aber auch nicht mit Ärzten, Pflegern, Gärtnern, sie ziehen den Kürzeren.
Und im Ernst?
Die wirtschaftspolitischen Konzepte, um den Arbeitskräftemangel abzumildern, sind ja bekannt. Es geht um gezielte Zuwanderung, um bessere Betreuungsmöglichkeiten von Kleinkindern, und natürlich ist alles rund um das Thema Bildung zentral. Aber auch die Tatsache, dass viele Ärzte rund die Hälfte ihrer Zeit mit Verwaltungsaufgaben verbringen, zeigt, wie dringend es ist, den Bürokratieabbau endlich ernsthaft anzupacken.
Die aktuellen, nicht immer konstruktiven politischen Diskussionen sind womöglich Teil des Reifungsprozesses, der dann die Durchsetzung der Reformen ermöglicht.
Kriegt Deutschland das denn in seiner aktuellen Konstitution überhaupt noch hin? Über den Bürokratieabbau wird seit Jahrzehnten lamentiert, wird dieser von der Politik versprochen, aber das Gegenteil passiert. Auch das Entschlacken von Gesetzen wird ja nicht umgesetzt.
Denken Sie an die Agenda 2010, es war damals einfach nicht mehr hinnehmbar, dass die Arbeitslosenrate sich im Durchschnitt der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bei kaum vorstellbaren 9% bewegte und die Steuerbelastung und die Lohnnebenkosten immer weiter stiegen. Die aktuelle, nicht immer konstruktive Diskussion ist womöglich Teil dieses Reifungsprozesses, der dann die Durchsetzung der Reformen ermöglicht.
Wo sehen Sie denn etwa einen solchen „Reifungsprozess“ in der Politik?
Auf den ersten Blick ist dies natürlich angesichts der vielen Streitereien innerhalb der Koalition nicht zu erkennen. Aber es geht auch um die Stimmung in der Bevölkerung. Nehmen wir das Beispiel der Bahn. Jeder beklagt sich darüber, dass auf die Bahn kein Verlass ist, dass man nicht mit ihr planen kann. Anders als früher hat mittlerweile vermutlich jeder aber auch verstanden, dass diese Verspätungen damit zu tun haben, dass in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig für den Erhalt der Streckennetze getan wurde. Und da fand ich es interessant, dass trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse an den Investitionsplänen für die Modernisierung des Bahnnetzes unverändert festgehalten wurde. Früher hätte man hier wahrscheinlich die Axt angelegt.
Der Arbeitskräftemangel bedeutet u.a., dass Menschen Anstellungen finden, denen früher diese Möglichkeit verwehrt wurde. ... Das ist letztendlich auch eine gute Entwicklung, denn das führt zu einer größeren gesellschaftlichen Teilhabe.
Für Deutschland als Wirtschaftsstandort muss man also nicht ganz so schwarzsehen?
Der Arbeitskräftemangel bedeutet unter anderem, dass Menschen Anstellungen finden, denen früher diese Möglichkeit verwehrt wurde. Die Arbeitgeber denken um. Mancher Gaststättenbetreiber oder Krankengymnast wirbt Personal ohne größere Kenntnisse der deutschen Sprache aus Spanien oder anderen Ländern an. Das ist letztendlich auch eine gute Entwicklung, denn das führt zu einer größeren gesellschaftlichen Teilhabe. Dazu kommt, dass Menschen, die einen Job haben, fachlich am Ball bleiben und Unternehmen haben einen Anreiz, ihre Mitarbeiter fortzubilden. Das dämpft den Verlust an Produktivitätswachstum, der üblicherweise bei Arbeitskräftemangel gesamtwirtschaftlich zu beobachten ist.
Das ist eine Chance für Deutschland: Der Innovationsdruck steigt erheblich, in bestimmten Bereichen die fehlenden Arbeitskräfte durch mehr Automatisierung oder Künstliche Intelligenz zu ersetzen.
Welche Rolle könnte in diesem Zusammenhang etwa die weitere Automatisierung und die künstliche Intelligenz spielen?
Auch hier sehe ich eine Chance für Deutschland. Der Innovationsdruck steigt erheblich, in bestimmten Bereichen die fehlenden Arbeitskräfte zu ersetzen. Das wird nicht unbedingt die Pflege sein, wohl aber die administrativen Prozesse in diesem Sektor. Darüber hinaus fängt im Einzelhandel mit automatisierten Kassen dieser Prozess schon an und auch im IT-Bereich kann man beobachten, dass Programmierer sich sehr effektiv von KI-Anwendungen unterstützen lassen. Das alles kann helfen, die Situation zu entspannen, derartige Anpassungsprozesse brauchen üblicherweise aber recht viel Zeit.
Arbeit ist relativ zu Kapital knapper geworden, und diese Knappheit wird noch zunehmen und deswegen wird Arbeit in Zukunft höher entlohnt werden. ... Das bedeutet, dass viele Unternehmen ihre Gewinne nicht mehr ganz so stark steigern können.
Inwieweit kann der Arbeitskräftemangel in Deutschland (aber) zumindest in der näheren Zukunft eine Lohn-Preis-Spirale auslösen?
Angesichts der hohen Inflation haben wir in den vergangenen Jahren deutlich höhere Lohnabschlüsse gesehen, als das zuvor üblich war. Ich glaube aber, dass sich die Verhältnisse dauerhaft verschieben werden, ohne dass dies zu einer Lohn-Preis-Spirale führen muss. Arbeit ist relativ zu Kapital knapper geworden und diese Knappheit wird noch zunehmen und deswegen wird Arbeit in Zukunft höher entlohnt werden. Die gefühlt höhere Streikbereitschaft in vielen Sektoren der Wirtschaft unterstreicht das. Letztlich bedeutet das, dass viele Unternehmen ihre Gewinne nicht mehr ganz so stark steigern können, während sie bei den Löhnen etwas großzügiger sein müssen.
Untergräbt die ganze Entwicklung nicht die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland?
Mit den Schlagworten Deindustrialisierung und Verlust an Wettbewerbsfähigkeit Panik zu schüren, ist verfrüht. Vom Grundsatz her leiden die anderen Industrieländer unter ähnlichen Problemen. Das verschafft uns nicht viel, aber ein wenig Zeit. Deswegen sollten die Entwicklungen als Chance begriffen werden. Das Ergebnis könnte Vollbeschäftigung sein, ein besserer Ausbildungsstand, Internet auch in abgelegenen Regionen, stärkere Integration von benachteiligten Gruppen und ein echter Bürokratieaufbau. Kurz, wir würden zu einem Land, das von seiner gesellschaftlichen Stabilität und seinem technischen Know-how wieder ganz vorne mitschwimmt.
Von Stephan Lorz, Frankfurt
Das Interview führte Stephan Lorz.