LEITARTIKEL

Die Bremser von Berlin

Wenn Angela Merkel heute mit den übrigen Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel zum Frühjahrsgipfel zusammentrifft, erwartet die Bundeskanzlerin eine Agenda, die so voll ist wie seit Jahren nicht mehr. Zehn mehr oder weniger wichtige und...

Die Bremser von Berlin

Wenn Angela Merkel heute mit den übrigen Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel zum Frühjahrsgipfel zusammentrifft, erwartet die Bundeskanzlerin eine Agenda, die so voll ist wie seit Jahren nicht mehr. Zehn mehr oder weniger wichtige und aktuelle Themen gilt es abzuräumen – der Handelsstreit mit den USA gehört natürlich dazu, der Brexit, ein Reformpaket für die Eurozone, die Beziehungen zu Russland und zur Türkei, um nur einige Stichworte zu nennen. Nicht nur angesichts dieser Tagesordnung ist es nur zu begrüßen, dass sich Deutschland nach der quälend langen Regierungsbildung in Berlin endlich auch wieder uneingeschränkt an den europäischen Weichenstellungen und Lösungssuchen beteiligen kann. In den vergangenen Monaten haben dort eindeutig andere den Ton vorgegeben und die Ideen und Themen gesetzt, allen voran natürlich der französische Präsident Emmanuel Macron. Dass der EU-Gipfel heute die Besteuerung der Digitalwirtschaft diskutiert, ist ebenso auf seine Initiative zurückzuführen wie die morgigen Sondierungen zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Dann wird es um längerfristige Maßnahmen gehen wie die mögliche Einführung einer Fiskalkapazität und Verbesserungen der Governance, etwa bei Strukturreformen. Leider ist die neue Bundesregierung vor allem in Sachen Währungsunion noch längst nicht sprechfähig. Die noch im Dezember großspurig bis März versprochenen gemeinsamen deutsch-französischen Reformpläne sind schon lange verschoben worden. Und besonders viele Antworten hat der Koalitionsvertrag von Union und SPD auch nicht zu bieten. Hier wurde das Europakapitel zwar prominent auf den vorderen Seiten platziert. Doch Positionen zum Beispiel zur Banken- und Kapitalmarktunion kann man hier vergeblich suchen. Dabei sieht die Brüsseler Reformagenda klar vor, dass es im Juni schon konkrete Beschlüsse zur umstrittenen europäischen Einlagensicherung und zu einer Letztsicherung für den EU-Bankenabwicklungsfonds geben soll. Spätestens dann gilt es für Merkel und ihren neuen Finanzminister Olaf Scholz, klar Farbe zu bekennen.Die fehlenden Positionierungen Deutschlands beziehungsweise die mangelnde Konzentration Berlins auf eine Verständigung mit Paris werden in zahlreichen anderen EU-Mitgliedstaaten mit Sorge beobachtet. Schon vor zwei Wochen fühlten sich deshalb zum Beispiel acht kleinere nordische EU-Länder gemüßigt, ihre Vorstellungen von Reformen in der Eurozone aufzuschreiben. Das Positionspapier mit den Plädoyers für nationale Reformanstrengungen und skeptischen Aussagen zu einer weiteren Vergemeinschaftung hätte auch aus der Feder des langjährigen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble stammen können. Die Thesen sind wenig überraschend. Bemerkenswert ist aber, dass die Gruppe der acht es offenbar nicht mehr allein Deutschland überlassen will, auch ihre Interessen zu vertreten.Was ist also der europapolitische Kurs der neuen großen Koalition? Was ist die Antwort der Berliner Regierung auf die mannigfaltigen Ideen des französischen Präsidenten, auf die dieser seit seiner bedeutsamen Rede im September an der Pariser Sorbonne-Universität wartet? In Berlin hieß es gestern dazu, Macron wisse sehr gut, wo die deutsche Regierung stehe – auch wenn Merkel noch keine öffentliche Rede vor der Humboldt-Universität gehalten habe. Allein dieser herablassende und unangebrachte Ton macht wenig Hoffnung auf eine neue, mutige deutsche Europapolitik in den kommenden vier Jahren. Natürlich ist Angela Merkel seit mehr als einer Dekade ohnehin eher als Krisenmanagerin und weniger als Visionärin bekannt. Dass sich dies auch im Tandem mit Emmanuel Macron nicht groß ändert, wird mittlerweile mehr und mehr ersichtlich. Die EU-Partner können sich damit auf viel Kontinuität einstellen. Aus Berlin dürfte dann wohl weiterhin eher zu hören sein, was nicht geht, und nicht, was geht.Die große Neuerfindung der EU wird es so schnell nicht geben. Beim Brüsseler Gipfel heute und morgen dürfte dies nicht weiter auffallen, gilt es hier doch, sich mit akuten Krisenherden zu befassen und ganz praktische Probleme zu lösen. Ende Juni wollen die Staats- und Regierungschefs dann aber wichtige Weichenstellungen in der Migrations- und Verteidigungspolitik und natürlich der Eurozone verabschieden. Dies wird eine Nagelprobe für die Handlungsfähigkeit der EU werden – und zugleich auch für die Gestaltungskraft, welche die neue deutsche Regierung in Sachen Europa hat.—-Von Andreas HeitkerDie neue Bundesregierung ist in vielen EU-Themen noch nicht sprechfähig. Die Hoffnung auf eine neue, mutige Europapolitik ist zurzeit eher gering.—-