LEITARTIKEL

Die Demografie-Dekade

Siemens contra Fridays for Future ist der erste große Kampf der neuen Dekade in der deutschen Wirtschaftswelt. Natürlich geht es dabei primär um den Klimawandel. Der Konflikt offenbart jedoch eine Bruchlinie, die über diese Debatte hinausreicht und...

Die Demografie-Dekade

Siemens contra Fridays for Future ist der erste große Kampf der neuen Dekade in der deutschen Wirtschaftswelt. Natürlich geht es dabei primär um den Klimawandel. Der Konflikt offenbart jedoch eine Bruchlinie, die über diese Debatte hinausreicht und deshalb untergründig enorm wirkmächtig ist: Die Demografie wird die zwanziger Jahre in Deutschland so stark prägen wie zuletzt in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Babyboomer das Licht der Welt erblickten. Tektonische Verschiebungen zwischen den Generationen treffen andere Weltregionen wie China und Arabien ebenfalls.Nun lässt sich feststellen, die langfristigen Interessen von Jung und Alt liefen schon immer auseinander – man solle also nicht jede Verschiebung zum Megatrend aufblasen und die Kirche im Dorf lassen. Diese Sichtweise ist in diesem Fall zu begrenzt. So wie die Kirche rasant an Einfluss verliert und die Dörfer neben den Ballungszentren marginalisiert werden, so ist nicht nur das Sprachbild, sondern die gesamte Argumentation im Altvertrauten verhaftet. Die divergierenden Interessen von Jung und Alt werden gesellschaftlich dann relevant, wenn eine Alterskohorte einen ungewöhnlich großen Anteil der Bevölkerung stellt.Anfang des vergangenen Jahrzehnts hat der “arabische Frühling” eindrucksvoll vor Augen geführt, welche Folgen dies haben kann. Quer durch die Region dominiert aufgrund eines starken Bevölkerungswachstums die junge Generation, die sich gegen die vielfach korrupten Inhaber der Macht auflehnte. Bis heute prägt dieser Konflikt die dortigen Staaten.In Deutschland dagegen gewinnen nicht die Jungen die Oberhand, sondern die Alten. Die Rentner sind auf dem Vormarsch. Ende des Jahrzehnts wird nahezu jeder vierte Einwohner über 67 Jahre alt sein. Langfristig erwartet das Prognos-Institut, dass 55 % der Einwohner älter als 65 Jahre sind und diese Gruppe damit die Mehrheit stellt. Zuletzt lag dieser Altenquotient bei gut einem Drittel.Diese Verschiebung ist keine Neuigkeit. Zukunftsforscher prognostizieren sie schon lange. Doch in dieser Dekade, die nach allgemeinen Sprachverständnis Anfang 2020 begonnen hat und streng genommen 2021 anläuft, werden die Vorhersagen in Realität umgemünzt. Der Konflikt zwischen Jung und Alt müsse gelöst werden: So begründete Siemens-Chef Joe Kaeser, dass er vor kurzem der Aktivistin Luisa Neubauer einen Sitz in einem Aufsichtsgremium der künftigen Gesellschaft Siemens Energy anbot. Man kann die Stirn runzeln über die Idee, einer 23-Jährigen ohne Erfahrung in Unternehmensführung die Kontrolle eines potenziellen Dax-Wertes anzuvertrauen. Letztlich ist die abgelehnte Offerte jedoch ein Versuch, in der beginnenden Demografie-Dekade den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. Das 50. Weltwirtschaftsforum in Davos zielt in die gleiche Richtung. Dort stellten in diesen Tagen zehn Jugendliche Initiativen vor, mit denen sie die Gesellschaft verändern wollen.Dies ist schön und gut, löst aber die ökonomischen Aufgaben nicht. Ein Beispiel: Das Arbeitskräftepotenzial ist im vergangenen Jahr noch kräftig gewachsen, im Jahr 2020 wird es nur minimal zulegen und perspektivisch schrumpfen. Bis Mitte der zwanziger Jahre wird die Zahl der Personen im Erwerbsalter um zwei Millionen sinken. Der Preis der Arbeit steigt, Unternehmen reagieren mit einer zusätzlichen Verlagerung von Stellen in ihre Absatzmärkte. Hierzulande werden die Pensionslasten die Sozialsysteme überlasten. Verteilungskämpfe sind programmiert.Die Wirtschaft ist mit dieser Aufgabe überfordert, die Politik daher in der Pflicht – und zwar auch auf ihrem ureigensten Feld. Denn eine junge Generation, die sich eingespielten Entscheidungswegen der Demokratie entzieht, fühlt sich nicht mehr repräsentiert. Das Brexit-Votum, bei dem die jungen Briten der Wahlurne fernblieben, hat dies vor Augen geführt. Partizipation ist neu zu denken.Es ist das Privileg der Jugend, auf die Straße zu gehen. Doch nur am Verhandlungstisch werden Verträge geschlossen. Das Gesellschaftssystem muss der jungen Generation dort einen Platz anbieten, der Raum für ihr Selbstverständnis bietet. Die Jungen sollten diesen Platz nutzen, selbst wenn sie Zugeständnisse machen müssen. Die Alten ihrerseits dürfen ihre Macht nicht ausschließlich für ihre Interessen ausspielen – dies fängt bereits bei dem Maß der Rentenerhöhungen an. Letztlich gilt: Ohne Kompromisse gibt es keine Verhandlungsergebnisse und auch keinen Generationenvertrag.——Von Michael FlämigDie Demografie wird das neue Jahrzehnt so stark prägen wie zuletzt in den sechziger Jahren. Politik und Wirtschaft müssen sich darauf vorbereiten. ——