Die Erosion der Schuldentragfähigkeit in der Eurozone

Von "Todeszonen" und "Horrorzinsen" - Objektive Zinslasten noch erträglich - Laufzeitenstruktur entscheidend - Notenbanken als Garant für die Staatsschuld

Die Erosion der Schuldentragfähigkeit in der Eurozone

Die Zinsen für Staatsanleihen von Spanien und Italien haben Niveaus erreicht, die als “Todeszone” bezeichnet wird, weil die Schuldentragfähigkeit gefährdet wird. Doch vor der Etablierung der Eurozone hatten jene Staaten deutlich höhere Zinsniveaus vertragen. Welcher Zinssatz ist also noch erträglich?Von Stephan Lorz, Frankfurt”Horrorzinsen” und “Todeszone” – wenn die Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen eines Staates deutlich über 6 % steigen, greifen Analysten und Journalisten schon mal gerne in die Schublade alarmistischer Begrifflichkeiten. Das verschreckt Investoren in Staatsanleihen indes zusätzlich, was das Zinsniveau weiter in die Höhe treibt. Sobald dann die Sieben-Prozent-Schwelle erreicht wird, ist das Land natürlich “fällig”, um unter den Euro-Rettungsfonds zu schlüpfen. Der soll das betroffene Land dann – zu niedrigeren Zinsen selbstverständlich – für zwei bis drei Jahre durchfinanzieren, ehe es sich dann – geläutert, modernisiert und stabilisiert – wieder an den Finanzmarkt zurückwagen kann.Aber wie tödlich ist die Todeszone tatsächlich? Haben nicht gerade die aktuellen Euro-Krisenstaaten in der Vergangenheit viel höhere Zinsniveaus überstanden? Oder ist das Problem ganz anders gelagert? Kann die Risikoprämie ab einem bestimmten Punkt gar nicht hoch genug sein, um Investoren noch zum Kauf einschlägiger Staatsanleihen zu “überreden”? Und hat nicht gerade die Privatsektorbeteiligung beim griechischen Schuldenschnitt die “Käuferstreikzone” eher ausgeweitet, haben sich die Euro-Staaten also selbst ins Abseits gestellt?Bei der jüngsten Auktion Spaniens kam der oben beschriebene Marktmechanismus wieder zum Tragen. “Es besteht ein ernsthaftes Risiko, dass Spanien kein Geld mehr bekommen wird, oder wenn, dann nur zu astronomischen Zinsen”, warnte der spanische Regierungschef Mariano Rajoy und beschleunigte auf diese Weise noch die Spekulation über versteckte Lasten und über die Schuldentragfähigkeit des Landes.Tatsächlich stiegen die Zinsen zuletzt für einjährige Laufzeiten auf mehr als 5 % – im Mai waren es noch unter 3 %. Zehnjährige Titel kamen auf knapp 7 % – waren vor einigen Monaten aber noch für rund 5 % zu verkaufen. “Die spanischen Renditen nähern sich damit gefährlich dem Level an, bei dem Portugal, Griechenland und Irland unter den Euro-Schutzschirm flüchten mussten”, mahnte die spanische Zeitung “El Economista”. Und der spanische Ökonom Luis Garicano von der London School of Economics orakelte: “Die Zinsen für spanische Anleihen liegen damit in einem Bereich, in dem sie das Haushaltsdefizit spürbar in die Höhe treiben und sich ein Staat kaum noch aus eigener Kraft finanzieren kann.” Er spricht von einer “alarmierenden Situation”. “Kritische Zinsrate”Aber ist die Todeszone bei den Zinsen eigentlich so klar abzugrenzen? Ein Blick auf die Zinslasten in den Euro-Ländern, gemessen an der jeweiligen Wertschöpfung (Bruttoinlandsprodukt/BIP), zeigt (siehe Grafik), dass sich die Euro-Staaten immer noch günstiger finanzieren können als vor der Gründung der Eurozone. Ein weiteres Indiz für die Schuldentragfähigkeit ist die Zinsbelastung in Bezug auf die Steuereinnahmen. Denn Letztere sind jene Steuerungsgröße, auf die der Staat zur Bedienung seiner Schuld direkt zugreifen und damit privates Einkommen zum Schuldendienst heranziehen kann. Brüssel hat auf dieser Basis eine “kritische Zinsrate” berechnet. Ein Land kommt in diese Zielzone, sobald die Zinskosten 10 % des Steueraufkommens überschreiten. Das ist im Falle Irlands und Portugals mit jeweils 12,3 % und Italiens mit 11,2 % bereits geschehen. Die Länder befinden sich also nach dieser Lesart bereits in einer “kritischen Phase”. Spanien liegt dagegen mit 6,5 % noch darunter.Entscheidend ist aber auch, wie lang die durchschnittliche Laufzeit der Anleihen ist, die sich derzeit im Markt befinden. Italien etwa hat diese in den vergangenen Jahren sukzessive erhöht. Die Kredite müssen nicht so schnell zurückgezahlt werden, entsprechend weniger häufig muss man den Finanzmarkt “anpumpen”, ein Zinsgewitter lässt sich so leichter überstehen, und das Land ist weniger anfällig für plötzliche Zinsschwankungen. 1993 lag die durchschnittliche Laufzeit in Italien bei etwas mehr als drei Jahren; vergangenes Jahr waren es schon sieben Jahre. Allerdings geht es im Hinblick auf Italien in absoluten Zahlen immerhin um den zweitgrößten Schuldner in der Eurozone mit rund 1,9 Bill. Euro – nach Deutschland mit knapp über 2 Bill. Euro.Einen Hinweis auf die Abhängigkeit eines Landes vom Finanzmarkt geben deshalb auch Daten zum gesamten Finanzierungsbedarf (Haushaltsdefizit plus Refinanzierung der bestehenden Staatsschuld). Für Italien wird der Wert auf knapp 29 % des BIP angesetzt, Portugal liegt bei 27 % und Spanien bei 21 %. Zum Vergleich: Deutschland bei 8,9 %. Wenn mehr ein Viertel der Staatsschuld Jahr für Jahr umgeschlagen wird, das Land sich ständig am Markt präsent zeigt, ist leicht nachvollziehbar, warum die Angst grassiert, dass das hohe Zinsniveau schon bald die Schuldentragfähigkeit des jeweiligen Landes überschreiten könnte. Vertrackte LageAllerdings spielen bei der Beurteilung der Schuldentragfähigkeit noch weitere Faktoren eine wichtige Rolle, wie das Beispiel Japan und die USA zeigen. Sie müssen jährlich sogar 59,1 % bzw. knapp 26 % des BIP am Finanzmarkt refinanzieren, liegen also ebenfalls in der Krisenzone, haben zudem einen deutlich höhere Verschuldungsgrad als die Eurozone in der Gesamtheit und die Euro-Krisenländer (mit Ausnahme Griechenlands) im speziellen, aber gleichwohl vertrauen die Investoren diesen Ländern ihr Geld zu relativ niedrigen Zinssätzen an. Warum?Grund dafür ist zum einen der hohe Anteil der im Inland gehaltenen Schulden. Er ist höher als in den allermeisten Euro-Ländern. Inländische Investoren neigen üblicherweise weniger dazu, Staatsanleihen des eigenen Landes aufzulösen. In Japan liegt der Inländeranteil bei etwa 95 %, in den USA bei 70 %. Für Europa kommt erschwerend hinzu, dass selbst die Inländer wegen der Krise nun ihre Euro-Portefeuilles auflösen oder zumindest in “sichere Häfen” transferieren wie Deutschland. Die Lage ist also noch vertrackter.Ein weiterer Vorteil für USA & Co.: die heimische Notenbank. Zum einen hält sie über diverse Kriseninterventionen einen sehr großen Anteil der Staatsschulden selbst und neigt weniger zu erratischem Verhalten als Privatinvestoren. Knapp 8 % der US-Schulden liegen etwa in den Tresoren der Federal Reserve; in Großbritannien sind es gar rund 12 %. Dies dokumentiert ferner, dass die heimischen Zentralbanken unter allen Umständen bereit sind, den Staat auch unter Inkaufnahme höherer Inflation nicht pleitegehen zu lassen. Zwar droht eine partielle Entwertung der umlaufenden Staatspapiere, aber keine Zahlungsunfähigkeit des staatlichen Emittenten.Im Hinblick auf Europa kommt noch ein weiterer nachteiliger Umstand hinzu: Privatinvestoren sind angesichts der jüngsten Erfahrungen, wie mit ihnen während des griechischen Schuldenschnitts umgegangen worden ist, immer weniger bereit, den Beteuerungen der Politik in Bezug auf die Sicherheit von Anlagen in Portugal, Spanien oder Italien zu glauben. Entsprechende Bekundungen gab es schließlich auch Monate vor der “Privatsektorbeteiligung” in Griechenland. Öffentliche Gläubiger kamen dabei – im Gegensatz zu den privaten Investoren – weitgehend ungeschoren davon.Allein dieser Fauxpas dürfte das Zinsniveau in den europäischen Krisenländern spürbar nach oben gehievt haben. Zudem dürfte der Investorenkreis darum selbst bei noch höheren Zinsen ziemlich überschaubar sein. Die Folge: Ein Käuferstreik droht – und dann spielen nüchterne Fakten in Bezug auf Schuldenstruktur und Schuldentragfähigkeit ohnehin keine große Rolle mehr.