ENDE DER ALTEN ORDNUNG

Die EU sucht ihre globale Rolle

Brexit und innere Konflikte unterminieren Global-Player-Anspruch - 2019 werden Weichen neu gestellt

Die EU sucht ihre globale Rolle

Von Andreas Heitker, BrüsselDie Botschaft, die EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im September in seiner Rede zur Lage der Union gesendet hat, war unmissverständlich: Europa dürfe in der Arena der Weltpolitik nicht nur Zaungast sein, sagte er vor dem Europa-Parlament. Angesichts der zahlreichen globalen Herausforderungen schlage jetzt “die Stunde der europäischen Souveränität”. Geht es nach Juncker, muss die EU alles dafür tun, um nicht zwischen den Weltmächten China und USA zerrieben zu werden. Und sie sollte alles daran setzen, um Regeln und Werte als Standardsetzer in den Rest der Welt zu exportieren.Doch kann dies gelingen, wenn mit Großbritannien in wenigen Monaten ein wirtschaftliches und politisches Schwergewicht auf internationalem Parkett die Union verlässt? Beraubt sich die EU mit ihren vielen inneren Konflikten nicht selbst einer stärkeren globalen Bedeutung?Bei einem näheren Blick auf den Zustand der EU kurz vor dem Brexit wachsen die Zweifel, wie realistisch Junckers Forderungen nach mehr “Weltpolitikfähigkeit” sind. Nicht nur Großbritannien präsentiert sich zurzeit als gespaltenes Land. In Frankreich haben die “Gelbwesten”-Proteste tiefe Risse in der Gesellschaft offengelegt. In Belgien zettelten rechte Gruppierungen zuletzt Randale an. Auslöser war hier der UN-Migrationspakt, der zuvor auch schon die belgische Regierung gesprengt hatte. In Spanien schwelt der Katalonienkonflikt weiter. Streit über mehr SolidaritätGleich drei EU-Staaten stehen aktuell wegen Rechtsstaatlichkeitsproblemen am Pranger. Mit Rumänien übernimmt jetzt ausgerechnet eines dieser Länder, das auch noch ein massives Korruptionsproblem hat, die EU-Ratspräsidentschaft. Die Niederlande blockieren als Speerspitze der neuen Hanse-Gruppierung nordeuropäischer Staaten derzeit alle Versuche, die EU und die Eurozone zu vertiefen und solidarischer zu gestalten. Und im Gründungsland Italien lässt die Populistenkoalition nichts unversucht, um die EU und ihre Regeln vorzuführen.Die Ursachen der zahlreichen Konfliktherde mögen unterschiedlich sein. Sie offenbaren aber Gräben zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd und vor allem innerhalb der einzelnen europäischen Gesellschaften. Es erscheint zunehmend schwieriger, die Union als politische Wertegemeinschaft zusammenzuhalten – und damit auch, ihr eine Rolle als Global Player und internationaler Standardsetzer zu geben. Nur beim Thema Brexit haben sich die EU-27-Staaten in den vergangenen eineinhalb Jahren so geschlossen gezeigt, wie es kaum zu erwarten war. Dass sich Brüssel in den Austrittsverhandlungen mit London in nahezu allen wesentlichen Punkten durchsetzen konnte, hatte nicht nur mit der Schwäche der britischen Seite zu tun. Wirtschaft will starkes EuropaDie Wirtschaft unterstützt die global stärkeren Ambitionen Brüssels. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat sein jüngstes Positionspapier zur Europapolitik nicht ohne Grund mit “Eine starke und souveräne EU – Für eine neue Rolle Europas in der Welt” überschrieben. Auf 40 Seiten wird unter anderem die Forderung nach einer neuen Außen- und vertieften Verteidigungspolitik laut. Die EU müsse als “weltweiter Stabilitätsanker” agieren. Neben den USA, Russland und China werde die EU derzeit kaum als eigenständiger Impulsgeber wahrgenommen, kritisiert der BDI. Im Fokus der Unternehmen steht aber vor allem die Rolle der Union in der internationalen Handelspolitik. Es geht um offene Märkte, einen regelbasierten Wettbewerb, marktwirtschaftliche Prinzipien und hohe globale Standards. Auch eine funktionierende Welthandelsorganisation (WTO) gilt als unverzichtbar.Die EU-Kommission versucht, gerade auch in der Handelspolitik zu liefern: Die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström ist bereits mit Reformvorschlägen für die WTO vorgeprescht und sucht hierfür aktuell international Verbündete. Und auch die Fortschritte in den Verhandlungen um neue Freihandelsabkommen waren zuletzt frappant. Dass das EU-Japan-Abkommen – der größte Handelsdeal, den Brüssel jemals verhandelt hat – im Februar in Kraft treten kann, hatte vor zwei Jahren noch kaum jemand für möglich gehalten. Und noch vor der Europawahl im Mai könnten auch noch die Verträge mit Singapur und Vietnam festgezurrt werden.Doch reicht dies aus, um die internen Spaltungen zu überdecken? Viel wird von den nächsten sechs Monaten abhängen, wenn wichtige Weichen in Europa neu gestellt werden. Zum einen wird endlich klar werden, ob und in welcher Form der Brexit vonstattengeht. Zweitens wird die Europawahl über die künftige Handlungsfähigkeit des EU-Parlaments und die Führung der EU-Kommission entscheiden. Und drittens wollen die EU-Staaten am 9. Mai auf ihrem ersten Sondergipfel nach dem Brexit im rumänischen Sibiu – zu Deutsch: Hermannstadt – eine (möglicherweise) grundlegende Neuausrichtung der EU anstoßen. Bürger sind gefragtÜber diesen Gipfel wird in Brüssel bereits gesprochen, seit klar ist, dass Großbritannien die EU verlässt. Seither wird europaweit diskutiert, welche EU die Mitgliedstaaten und ihre Bürger überhaupt wollen. Kommissionschef Juncker hat im März 2017 in einem Weißbuch fünf Option genannt: Weiter wie bisher? Eine reine Konzentration auf den Binnenmarkt? Weniger tun, aber effizienter? Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten? Oder doch viel mehr gemeinsames Handeln? Es folgten Hunderte von Bürgerdialogen und Konsultationen, und im EU-Parlament konnten die Regierungschefs schon ihre Vision von der künftigen Union vorstellen.Auf Twitter läuft die Debatte unter #Road2Sibiu. Für den 9. Mai ist nun der Abschluss dieses Prozesses geplant, der mit einer neuen Selbstverpflichtung der EU-Führungsspitzen enden soll. Wenige Wochen vor der Europawahl könnte damit ein wichtiges Zeichen der Einigkeit gesetzt werden. Der europäische Wirtschaftsverband Business Europe hat bereits seine Vision veröffentlicht. 2030, so hieß es, solle es eine starke EU geben, die weltweit die Agenda setze, die in Sachen Innovation, Digitalisierung und Nachhaltigkeit global führend sei, die effizient funktioniere und ökonomisch kohäsiv sei. Es sind große Ziele, die sich gar nicht so stark von Junckers “europäischer Souveränität” unterscheiden.